Die Regale sind voll. Reihen an Reihen von Bechern, Schalen, Tellern, Vasen – Zeugen vergangener Momente, eingefangene Augenblicke aus Ton. Ich stehe davor wie ein Wanderer vor einer Karte seiner eigenen Wege. Manche dieser Stücke erkenne ich sofort wieder, als wären sie alte Freunde, deren Geschichten ich mühelos erzählen kann. Andere hingegen? Sie blicken mich an wie Fremde, die ich einst kannte, aber längst vergessen habe. Habe ich sie wirklich geformt? Wann war das? Welche Gedanken hatten mich damals gelenkt?

Einige dieser Keramiken fesseln mich noch immer. Sie strahlen eine Zeitlosigkeit aus, die mich verwundert. Andere aber, sie scheinen zu verblassen. Die Zeit ist über sie hinweggezogen, als wären sie nur flüchtige Träume, von denen man am Morgen weiß, dass sie da waren, aber nicht mehr, warum. Sie sind Relikte einer unausgereiften Kunstfertigkeit, Versuche, denen die Seele fehlt. Fast automatisch wandern sie auf den Stapel der Aussortierten.
Und dann gibt es diese anderen Stücke. Sie stehen da, bescheiden, und dennoch mit einer Kraft, die mich innehalten lässt. Ich sehe sie an und erkenne: Hier war der richtige Weg bereits beschritten, aber irgendwo bin ich stehengeblieben, habe den Faden verloren, den Gedanken nicht weitergesponnen. Warum nur? Vielleicht war es der Zweifel, vielleicht ein Moment der Unaufmerksamkeit. Vielleicht war es einfach nicht an der Zeit.
Hunderte Gefäße. Und doch liebe ich nur eine Handvoll von ihnen wirklich. Ein paar dieser Lieblinge haben längst neue Besitzer gefunden. Seltsam – es scheint fast so, als würden immer genau die Stücke gehen, die mir am nächsten stehen. Ist das nur ein Zufall? Oder erkennen andere in ihnen genau das, was mich selbst so berührt? Ich weiß es nicht.
Die Entscheidung, welches Stück in die Welt geschickt wird, fällt nie leicht. Kaum habe ich eines gewählt, drängt sich das nächste auf. Diese Schale oder jene? Dieser Becher oder doch der andere? Mal scheint es eine logische Wahl, dann wieder entzieht sich jede Überlegung einem klaren Muster. Am Ende sind es weder Kalkül noch Analyse, die entscheiden. Es sind andere Kräfte. Etwas Tieferes. Der Bauch, das Herz, ein leiser Ruf, dem ich folge, ohne zu wissen, warum.
Ich bin nicht einer, sondern viele. Ein Kreis von Stimmen, die miteinander ringen, flüstern, lachen, zögern. Der Verstand sitzt dabei, notiert Argumente, wägt ab – doch er ist es nicht, der den letzten Entschluss trifft. Der letzte Impuls kommt aus einer anderen Ecke meines Wesens, aus einem Ort, der keine Begründung braucht.
Die Auswahl fühlt sich an wie ein verwunschenes Spiel, in dem jedes Stück seinen eigenen Willen hat, sich in den Vordergrund drängt oder stumm in den Schatten tritt. Ich greife nach einem Becher, ziehe die Hand zurück. Der nächste, nein, doch nicht – eine unsichtbare Waage schwankt, kippt, richtet sich neu aus. Ist es das Licht, das auf eine Schale fällt, das mich lockt? Oder eine leise Erinnerung, ein Echo aus der Zeit ihrer Entstehung? So viele Stimmen, so viele Zeichen, und doch kein klares Gesetz, das mir sagt, was richtig ist.
Und so wähle ich. Nicht mit Worten, nicht mit Gedanken. Sondern mit jenem ungreifbaren Wissen, das nur in der Stille spricht. Ein letzter Blick, ein leises Nicken – und die Wahl ist getroffen. Oder war es doch das Gefäß, das mich gewählt hat?