Ich und ich – eine Freundschaftsgeschichte.
Mein bester Freund bin ich.
Es hat lange gedauert, bis wir uns angefreundet haben. Jahrzehnte, um genau zu sein. Dabei war er immer da – morgens im Spiegel, abends auf dem Kopfkissen, zwischendurch in jedem grandios gescheiterten Versuch, das Leben zu verstehen. Aber ich habe ihn behandelt wie einen miesen Untermieter. Ich habe ihn kritisiert, bevormundet und ihm Vorträge gehalten, die in ihrer Länge an manche griechische Tragödie herankamen. Und er? Er ließ es sich gefallen. Jahrelang.
„Du bist nicht klug genug!“, klagte ich. „Nicht erfolgreich genug! Nicht diszipliniert genug!“ Und sowieso zu wenig sportlich. Mein innerer Kritiker war fleißiger als jede Schwiegermutter. Er fand immer etwas.
Irgendwann wurde es mir zu bunt. „Hör mal, alter Freund“, sagte ich zu mir, „du bist jetzt 65. Du wirst nie mehr ein junger Wilder. Und selbst wenn – du wärst kein besonders Wilder. Eher ein junger Gemäßigter. Also hör auf mit der Nörgelei. Sonst schmeiß ich dich raus.“
Seitdem ist Ruhe. Mein innerer Kritiker wurde umgeschult. Jetzt darf er mir nur noch höflich Verbesserungsvorschläge machen. Und siehe da – wir kommen besser miteinander aus.
Ich nehme mich freundlicher wahr. Ich klopfe mir auch mal auf die Schulter, selbst wenn es keiner sieht. Ich nehme das Leben mit all seinen großen Dingen nicht mehr so ernst, dafür aber die kleinen Dinge. Ich höre dem Regen zu. Ich beobachte die Wolken. Wir lachen auch öfter zusammen, vor allem über mich. Wenn beim Töpfern eine Teeschale krumm wird, nenne ich es absichtlich „wabi-sabi“ und verkaufe sie als philosophisches Meisterwerk. Wenn ich beim Glasieren patze, sage ich: „Genau so wollte ich das!“
Und weißt du was? Es fühlt sich gut an. Ich nehme mich freundlicher wahr. Ich bin geduldiger mit mir. Ich bin aufmerksamer, schreibe, male und töpfere viel und rede mit den Spatzen im Garten. Ich bin wieder ein bisschen kindisch. Und das ist wundervoll.
Ich feiere meine Fehler. Ich wachse daran. Jeden Tag. Und wenn ich das mal vergesse, erinnert mich mein bester Freund daran.