Worte

Vom Blau des Himmels und anderen verschwundenen Wundern. Ein Mann, die Sprache und der Rest des Lebens.

Mein ganzes Leben lang habe ich nach den richtigen Worten gesucht. Am Anfang war das einfach. „Will haben!“ – das war der Zauberspruch, der Türen, Schränke und Süßigkeitendosen öffnete. Er war so effizient, dass ich mir wünschte, er würde für immer ausreichen. Tat er aber nicht. Die Erwachsenen bestanden auf komplizierteren Sätzen. „Darf ich bitte?“ wurde eingefordert, und wenn ich Pech hatte, folgte danach trotzdem ein „Nein“. Das Leben war ungerecht.

Als ich älter wurde, bemerkte ich, dass Worte eine seltsame Eigenart hatten: Sie konnten Türen öffnen, aber auch zuschlagen. Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als mir ein Erwachsener sagte: „Nun sei mal still!“ Ich hatte gerade eine bahnbrechende Entdeckung gemacht – der Himmel war blau – und wollte diese Erkenntnis mit der Welt teilen. Statt Applaus gab es genervte Blicke.
Als Kind hatte ich keine Hemmungen. Ich plapperte drauflos, sprach Gedanken laut aus, die sich mir in den Kopf setzten. Warum war Wasser nass? Warum hatte der Opa so viele Falten? Und wieso durfte der Hund auf den Teppich pinkeln, ich aber nicht? Erwachsene hatten auf alles eine Antwort, wenn auch nicht immer eine zufriedenstellende. „Das ist eben so.“ Ein Satz, den ich hasste. Es klang wie ein Türzuschlagen im Kopf.

In der Schule ging es nicht nur darum, Worte zu finden, sondern auch die richtigen zu wählen. Dafür gab es Noten, die den Wert eines Satzes bestimmten. Der Lehrer war ein Wort-Währungsprüfer: „Subjekt, Prädikat, Objekt“ war die harte Währung, „Tuwort, Hauptwort“ dagegen nur Spielgeld. Ich nahm es hin, aber bis heute klingt „Tuwort“ in meinen Ohren lebendiger als „Verb“.

Dann kam die Pubertät, eine Zeit, in der Worte plötzlich eine andere Bedeutung bekamen. Schweigen wurde eine eigene Sprache. Ein Mädchen anzusehen, ohne etwas zu sagen, konnte mehr ausdrücken als tausend Worte. Leider galt das nicht für Schulaufsätze. Dort musste man schreiben. Möglichst klug und reflektiert. Ich begann, Worte zu horten, sie mir zurechtzulegen, sie gezielt einzusetzen. Das war anstrengend. In der Liebe hätte ich mir manchmal ein Wörterbuch gewünscht, eines mit klaren Anleitungen. „Sag jetzt das und sie wird dich küssen.“ So ein Buch hätte ich mir sofort gekauft.

Die erste Liebe brachte eine neue Krise. Worte versagten völlig. Ich stand da, stammelte, errötete – und wurde trotzdem geküsst. Danach war mein Denkzentrum überfordert. Die einzige Ausdrucksform, die mir blieb, war ein dämliches Grinsen. Und siehe da: Auch das wurde nicht abgelehnt. Ich durfte sogar ihren Busen streicheln – ein Ereignis von großer Bedeutung. So bedeutsam, dass alles andere verblasste und zu einem Nichts schrumpfte. Das Grinsen verstärkte sich so sehr, dass mein kleiner Bruder es für nötig hielt, mich bei jeder Gelegenheit mit „Verliebt, verlobt, verheiratet!“ zu verspotten. Der Junge hatte Talent zum Folterknecht.

Dann kam das Berufsleben. Ich wurde Polizist. Worte wurden jetzt amtlich. Ein Polizist spricht nicht einfach, er „weist hin“, „erlässt“ oder „verfügt“. Das war praktisch – acht Stunden am Tag. Danach war ich wieder ein gewöhnlicher Mensch, ohne Uniform und ohne Dienstausweis. Ich musste Worte finden für Traurige, für Verlorene, für meinen Sohn, der sowohl Lob als auch Tadel mehr, als nur verdiente. Ich musste Worte für meine Frau finden, um ihr zu zeigen, dass ich sie liebe – und nicht nur, wenn ich etwas von ihr wollte.
Worte wurden Werkzeuge. Ich lernte, sie gezielt einzusetzen, sie zu dosieren. Zu viel Lob macht unglaubwürdig, zu wenig Kritik gleichgültig. Ein falsches Wort konnte eine ganze Situation kippen. Ich wurde vorsichtig, wog meine Sätze ab. Manchmal wurde ich stumm, aus Angst, das Falsche zu sagen. Ein seltsamer Widerspruch: Ich war einmal ein Kind gewesen, das unaufhörlich sprach, und nun war ich ein Mann, der manchmal schwieg, weil er nicht wusste, wie er etwas ausdrücken sollte.

Vor allen Dingen aber, lernte ich zuzuhören. Hörte mehr die Worte anderer. Hören ohne zu Bewerten oder direkt zu handeln, eine schwierige Kunst.

Für mich selbst fand ich lange keine Worte. Für mein Glück erst recht nicht. Liebe? Die erklärten Rilke und Goethe so viel besser als ich. Ich las sie, nickte anerkennend und blieb trotzdem sprachlos. Manchmal fragte ich mich, ob das Leben eine Art Grammatikprüfung war, eine endlose Suche nach der perfekten Formulierung. Doch dann dachte ich an den Himmel. War der nicht einfach nur blau? Brauchte er eine Erklärung?

Irgendwann fand ich meine Worte wieder. Oder besser gesagt: Ich ließ sie zu. Es begann mit der Kunst. Mit der Fotografie entdeckte ich, dass Bilder ihre eigene Sprache haben. Ein Foto kann erzählen, ohne zu reden. Es zeigt Stimmungen, Gedanken, manchmal sogar Erinnerungen. Dann kam die Keramik. Ich formte Becher, Schalen, einfache Dinge – aber in ihnen steckte etwas von mir. Sie waren meine Worte, meine unausgesprochenen Gedanken. Ich musste nichts erklären, nichts rechtfertigen. Ein Becher ist ein Becher. Und doch kann er eine ganze Geschichte erzählen.

Heute weiß ich eines: Die richtigen Worte gibt es nicht. Es gibt nur die, die gerade passen. Manchmal sind sie laut, manchmal leise. Manchmal brauchen wir keine. Manchmal reicht ein Blick. Oder ein Becher aus Ton.

Aber eines habe ich mir vorgenommen: Ich werde wieder sagen, dass der Himmel blau ist. Und wenn jemand genervt die Augen rollt, werde ich lächeln und denken: „Wenigstens sehe ich ihn noch.“