Ich hatte alles geplant. Zwei Monate am Atlantik. Eine Reise durch Europa, mit Umwegen, Umarmungen und unbekannten Wegen. „The Grand Tour“ nannte ich das, nicht ohne ein kleines Augenzwinkern. Vielleicht aus Ironie, vielleicht aus Hoffnung. Ich hatte Karten studiert, Routen gelegt, Übernachtungen gebucht. Mein innerer Kompass war auf Westen gestellt, auf Salzluft, auf Sonnenuntergänge mit Möwen. Und dann kam der Umweg. Kein landschaftlicher. Kein schöner. Eine Krankheit, plötzlich und entschieden. Mit Notaufnahme und grellem Ernst.
Ich wurde wieder gesund. Nicht sofort, aber doch rechtzeitig, um zu erkennen, dass ich die Reise nicht antreten würde. Der Kalender blieb leer. Die Reisetasche unausgepackt. Das Meer unerreicht.
„Du musst dich doch fürchterlich ärgern“, sagte ein Freund. Aber nein. Ich ärgerte mich gar nicht. Ich war eher froh. Nicht nur über die Genesung, sondern über etwas, das mir erst später auffiel. Ich hatte mich wochenlang gefreut. Jeden Tag. Auf den Atlantik, auf das Licht, auf das Losfahren. Es war, als hätte ich die Reise schon längst angetreten, ohne aufzubrechen. Ich hatte mich in die Vorfreude verliebt. Sie war der eigentliche Reisebeginn gewesen.
Im Buch Prediger steht:
„Ich sah an alles Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es ist alles eitel und ein Haschen nach dem Wind.“
Ein Satz, der mich lange traurig machte. Heute nicht mehr. Heute ist dieser Satz für mich ein Trost. Denn das Haschen nach dem Wind ist kein Fehler. Es ist das Spiel der Seele. Die Kunst, sich zu sehnen, ohne zu klammern. Die Vorfreude ist genau dieses Haschen, aber mit einem Lächeln. Nicht vergeblich, sondern lebendig. Ich habe deshalb beschlossen, mir die Vorfreude zur Freundin zu machen. Nein, mehr noch, zur Lebensform. Nicht als Illusion. Sondern als Haltung. Ich will mir das Träumen wieder erlauben.
Der Tagträumer als Lebensarchitekt.
In meiner Jugend war ich ein großartiger Tagträumer. Ich sah aus dem Fenster und …. los ging es. Ich reiste in Gedanken. Ich fuhr mit dem Fahrrad durch Wälder, die ich nie betrat. Ich malte mir Zimmer aus in fernen Städten. Ich träumte mich an Tische, an denen noch niemand saß. Ich war Old Shatterhand. Winnetou. Es war schön. Es war leicht. Und es war genug.
Irgendwann verlernte ich das. Vielleicht kam es mit der Effizienz. Mit dem Erwachsensein. Mit den Kalendern, die ausgefüllt werden wollten. Ich plante, ich strukturierte, ich vollbrachte. Und doch fehlte etwas. Die kleinen, ungelebten Freuden, die in den Ritzen des Alltags wohnten. Jetzt hole ich sie zurück. Die Vorfreude als Architekt meines Innenlebens.
Friederike, Schutzengel, Lebenshilfe und Reinkarnation meiner Lieblingstante, behauptet übrigens, sie hätte das schon immer gewusst. „Das Leben ist kein Zielbahnhof“, sagt sie und rührt dabei in einem unsichtbaren Kakaobecher. „Es ist ein Umsteigebahnhof mit warmem Licht.“ Ich lasse ihr das durchgehen. Schließlich hat sie Flügel, wenn auch unsichtbare, und trägt gelegentlich Lavendelduft.
Das unvollendete Glück.
Viele sagen: Freude entsteht durch Erfüllung. Ich sage: Freude entsteht im Dazwischen. In diesem seltsamen, zarten Raum zwischen Idee und Realität. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die Vorfreude lebt dort. Wie ein Tier, das sich nicht streicheln lässt, aber bleibt, solange du es nicht zwingst. Sie ist das Gegenteil von Enttäuschung. Sie ist der Mut, sich zu freuen, auch wenn man nicht weiß, ob es eintritt. Manchmal ist sie sogar schöner als das Ereignis selbst. Wie ein Liebesbrief, der nie abgeschickt wurde. Wie ein Lied, das im Kopf bleibt, weil es nicht gespielt wurde. Ich glaube, wir brauchen mehr von dieser Freude. Nicht weil wir resignieren sollen, sondern weil wir Vertrauen üben dürfen. Nicht jeder Plan muss verwirklicht werden. Ein Gedanke kann glücklich machen. Eine Idee kann leuchten. Ein Wunsch kann wärmen, auch wenn er nie in Erfüllung geht.
Die Strategie der kleinen Großartigkeiten.
Es muss keine Weltreise sein, um das Glück zu finden. Ich kann auch in der Küche stehen und mich auf einen Tee freuen, der gleich fertig sein wird. Oder auf ein Gespräch, das noch nicht begonnen hat. Oder auf ein Gedicht, das ich vielleicht schreiben werde. Ich habe mir eine Strategie überlegt. Keine feste, keine rigide. Eher eine Art inneres Spiel:
Ich plane Reisen, durchaus ernsthaft.
Es sind Abenteuer. Im Kopf, im Herzen, im Kalender.
Ich gebe ihnen Namen. Lustige. Romantische. Realistische.
Ich suche Zwischenziele. Orte, an denen ich mich suchen kann.
So entstehen sie, die kleinen Großartigkeiten.
In Gedanken.
Im Alltag.
Und sehr oft auch in Wirklichkeit.
Die Freiheit der offenen Zukunft.
Was ist der Unterschied zwischen Hoffnung und Vorfreude? Hoffnung hat oft etwas Drängendes. Etwas, das nach Erfüllung schreit. Vorfreude hingegen ist sanfter. Sie fragt nicht nach Sicherheit. Sie genügt sich selbst. Sie lebt von Möglichkeit, nicht von Gewissheit. Und genau deshalb ist sie so frei. Ich habe in den letzten Tagen gelernt: Es ist klug, sich auf Dinge zu freuen, auch wenn sie unsicher sind. Auch wenn sie vielleicht nie passieren. Denn die Freude darüber passiert. Und das reicht. Der Prediger würde sagen: „Iss dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit fröhlichem Herzen.“
Ich ergänze:
Und träume deinen Weg mit offenem Herzen.
Das Lob des Irgendwann.
Irgendwann.
Ein weiches Wort. Ein Wort, das nicht drängt. Kein Deadline-Wort. Kein Jetzt-oder-nie-Wort. Sondern ein Wort wie eine Wiese. Man kann sich hineinlegen. Man kann darin aufatmen. Ich liebe dieses Wort. Es erlaubt mir, Pläne zu schmieden, ohne an ihnen zu ersticken. Es gibt der Zukunft Raum. Und mir Geduld. Irgendwann, das kann morgen sein. Oder in fünf Jahren. Oder nie. Aber das Denken daran macht mich froh. Friederike findet „Irgendwann“ übrigens überschätzt. Sie bevorzugt „Gleich morgen vielleicht …!“. Ich stimme ihr nicht zu. Ausnahmsweise.
Der Alltag als Vorfreudeinstrument.
Natürlich gibt es auch Tage, an denen sich nichts träumen lässt. An denen alles grau ist. Der Alltag wird zum Instrument. Kein großes Orchester. Eher eine kleine Pfeife aus Holz. Schlicht.
Dann mache ich mir Listen im Kopf:
Worauf freue ich mich heute?
Was könnte schön sein, auch wenn es nicht passiert?
Welcher Gedanke macht mich leicht?
Es ist kein Zwang. Kein Achtsamkeitsdiktat. Eher ein stilles Spiel. Ein Zwinkern.
Der Schluss ohne Ende.
Und was, wenn ich doch nicht mehr reisen kann? Wenn das Leben kleiner wird, als ich dachte? Dann bleibt die Vorfreude. Auf jeden Fall. Als treue Begleiterin. Dann gehe ich durch Innenräume. Reise durch Erinnerungen, durch Bücher, durch Gespräche. Ich lasse das Irgendwann weiterleben. In Bildern, in Worten, im Stillen. Vielleicht ist das das eigentliche Ziel: Die Welt mit freundlicher Erwartung zu betrachten. Nicht als Bedingung, sondern als Möglichkeit.
Die Vorfreude als inneres Licht.
Als Taschenlampe durch die dunkleren Tage.
Denn wenn alles eitel ist, dann doch wenigstens mit einem Lächeln. Und wenn alles Haschen nach dem Wind, dann doch in schöner Richtung. Ich bleibe also ein Freund des Irgendwann. Ich träume weiter. Und plane. Und lasse los.
Und freue mich dabei.
Ohne Gewissheit.
Aber mit Herz.