Die Linse träumt.
Ein Garten im Märchenlicht.
Heute Morgen war das Licht wunderschön.
Nicht das grelle Licht der Mittagsstunden, das alles flach macht, sondern jenes leise, noch tastende Licht. Die Sonne war noch nicht ganz wach, aber schon auf dem Weg zur Arbeit.
Ich stand im Garten. Barfuß im nassen Gras. Die Kamera in der Hand. Ein altes Modell. Verlässlich. Kein Autofokus, der besser wusste, wohin ich sehen sollte. Nur ich und das alte Minolta-Objektiv aus den Siebzigern. Ein Stück Geschichte in meinen Händen. Metall. Glas. Und diese sonderbare Ehrlichkeit der Unschärfe. Wenn ich durch dieses Objektiv schaue, sehe ich anders. Weniger richtig. Dafür mehr wahr.
Die alte Technik verlangt Geduld. Alles muss von Hand geschehen. Die Schärfe ist eher eine Ahnung. Die Blende ein Versuch. Das Ergebnis? Unvorhersehbar. Und gerade deshalb: ein Geschenk. Ich liebe diese Ungenauigkeiten. Diese Farbsäume, die wie Säume von Märchenkleidern am Bildrand tanzen. Das Licht, das sich nicht an die Regeln der Physik hält. Und dann dieses Bokeh. Weich, wirbelnd, träumend. Kreise im Hintergrund, als hätte jemand Seifenblasen in den Raum gezeichnet. Früher hätte ich gesagt: ein Fehler. Heute sehe ich darin Landschaften. Innere. Verschobene. Verzauberte.
Ich nenne das Objektiv mein Märchenauge.
Es sieht nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie sich anfühlt. Wie sie träumt, wenn keiner hinschaut. Vielleicht hat es mit dem Alter zu tun, mit der Erfahrung in der Linse, mit dem Staub der Jahrzehnte. Vielleicht aber auch mit Friederike. Denn eines ist sicher: Ich fotografiere das nicht allein. Wenn ich auslöse, geschieht etwas. Nicht technisch. Nicht kontrolliert. Sondern poetisch. Ich halte nur die Kamera in die Sonne. Aber irgendetwas – oder jemand – übernimmt dann.
Friederike, glaube ich.
Sie ist oft bei mir im Garten. Sie sagt nie etwas. Und doch verändert sich alles, wenn sie auftaucht. Die Farben öffnen sich. Das Licht wird weich wie ein Seufzer. Ein zarter Hauch legt sich über die Dinge, wie Puderzucker über ein zu altes Märchenbuch. Vielleicht ist sie ein Engel. Vielleicht eine Erinnerung. Oder die leise Stimme der Phantasie.
Die Fotos tragen ihren Atem.
Es sind mehr als Bilder. Es sind Märchenorte. Die Blume darin – halb Licht, halb Schleier. Ihre Konturen lösen sich auf, als wüsste sie, dass es auf das Festhalten nicht ankommt. Es geht ums Staunen. Um das sich Einlassen. Um das kurze, flüchtige Jetzt. Das Bokee ist wild. Ein wogender Hintergrund aus Lichtpunkten und Formen, die sich nicht festlegen lassen. Wie Gedanken im Halbschlaf. Wie Träume, die gerade erst beginnen, sich zu erzählen. Man könnte sagen: unklar. Ich sage: frei.
Das alte Objektiv hat keine Scheu vor Fehlern. Es versucht nicht, perfekt zu sein. Es zeigt die Dinge, wie sie leuchten wollen – nicht, wie sie müssen. Es lässt Platz. Für das Wunder. Für den Zufall. Für das Spiel.
Das Eichhörnchen sitzt am Vogelfutter. Selbstvergessen. Dreist. Ein bisschen frech. Aber auch schön. Ganz bei sich. Es lässt sich nicht stören. Nicht mal von mir. Nur die Amsel ist nervös. Sie hat das Wasserbecken sonst für sich allein. Heute dreht sie ab. Wartet. Vielleicht hat sie Angst. Vielleicht ist das auch einfach ihre Art, dem Tag zu begegnen. Mit Vorsicht.
Friederike steht irgendwo zwischen den Zweigen. Vielleicht auch auf dem Zaun. Oder im Lichtfleck auf dem Kiesweg. Man sieht sie nicht. Aber ich spüre: Sie lächelt. „Ein schöner Morgen“, sagt sie. Nicht laut. Eher wie ein Gedanke, der mir zufliegt. Ich lächle zurück. Und nicke.
Was ist Schönheit?
Ich weiß es nicht genau. Aber sie hat viel mit Licht zu tun. Und mit Verletzlichkeit. Das Objektiv ist kein Werkzeug. Es ist ein Mitspieler. Es folgt nicht. Es führt. Es träumt. Wenn ich mit ihm fotografiere, verliere ich ein bisschen die Kontrolle und finde dafür den Zauber. Ein Bokeh ist kein Fehler. Es ist ein Flirren. Eine Ahnung. Ein Fenster nach innen. Vielleicht ist es das, was mich so erschüttert, wenn ich die fertigen Bilder sehe. Ich erkenne nicht, was ich fotografiert habe – ich erkenne, wie ich gefühlt habe. Die Kamera ist nur der Schlüssel. Was sich öffnet, ist etwas anderes.
Ein Gruß aus dem Unsichtbaren.