Farbe, bevor sie etwas wird.

Dieses Foto ist eine Zumutung.
Was wir sehen? Blumen. Was wir nicht sehen? Blumen.
Das Foto entzieht sich jeder klassischen Wahrnehmung und liefert stattdessen das, was ich als „Gefühl im Vorbeigehen“ bezeichne. Es ist, als hätte die Kamera einen Tagtraum gehabt. Oder sich geweigert, die Blumen scharf abzubilden.
Was bleibt, ist, die Farbe als erstes Wahrnehmungselement zu begreifen, als Primärgefühl vor dem Verstand.
Hier konkurrieren Blau, Grün und Gelb in einem visuellen Dreikampf ohne klare Sieger. Der Himmel ist da, aber nicht ganz. Die Pflanzen ebenfalls. Eingefangen ist keine Landschaft, sondern ein Schwebezustand. Eine fotografische Version dessen, was zwischen zwei Gedanken passiert bevor das Gehirn beschließt, etwas zu erkennen. Man kann das als „Unscharfheit“ bezeichnen. Oder besser: als präzise Unentschiedenheit.
Aber: Was aussieht wie ein digital verfremdetes Farbfeld ist in Wahrheit: die Wirklichkeit.
Erzeugt wurde sie durch die Kombination eines sechzig Jahre alten Objektivs mit einer hochauflösenden Digitalkamera. Ein analoges Auge trifft auf digitale Präzision und zeigt: Das Sehen ist formbar.
Die Linse verzeichnet. Sie produziert ein übersteuertes Bokeh. Sie verzichtet auf jede „Verbesserung“, die moderne Kameras routiniert vornehmen. Und genau dadurch entsteht ein Paradoxon:
Die Fotografie zeigt exakt das, was war, aber auf eine Weise, wie wir es längst verlernt haben zu sehen.
In dieser Kombination wird das Objektiv zum Erkenntnisinstrument. Es entlarvt die Idee von Schärfe als Konvention. Und zeigt, wie sehr unser Blick durch Technologie normiert wurde. Blumenwiese, unscharf ist somit mehr als eine ästhetische Irritation. Es ist ein dokumentiertes Innehalten. Eine Aufzeichnung des Moments zwischen Reiz und Bedeutung. Ein Sehen, das nicht behauptet, sondern fragt.