Eine Philosophie der Unvollkommenheit
In einer unscheinbaren Ecke des täglichen Lebens, dort wo das Chaos des Alltags keinen Platz für Glanz und Gloria lässt, steht eine kleine Teeschale aus Ton. Sie zieht kaum die Blicke auf sich, macht kein Aufhebens – und doch, in ihrer stillen Präsenz, trägt sie die geballte Weisheit eines ganzen Lebens in sich.
Manche Leute denken, das Leben sollte ohne Hindernisse verlaufen, ähnlich wie einige glauben, eine Teeschale sollte makellos sein. Aber was, wenn weder das Leben noch das Schaffen nach Perfektion streben sollte? Was, wenn es die Unebenheiten, die sichtbaren Spuren des Werdens und Seins sind, die den Kern unserer Existenz ausmachen? Lassen Sie mich diese Frage mit einem Blick auf eine Teeschale im Kurinuki-Stil und das menschliche Leben beantworten.
Der Kurinuki-Stil, so roh, so ungeschliffen, so absichtlich unvollkommen, steht im Widerspruch zu der Welt, die makellose Glätte fordert. Diese Schale beispielsweise trägt ihre Geschichte auf der Oberfläche, sie erzählt von der Hand, die sie formte, von den Werkzeugen, die sie bearbeiteten, von den winzigen Zufällen und Unfällen, die im Prozess entstanden sind. Und doch – oder gerade deswegen – ist sie einzigartig. Ihre Schönheit liegt nicht in der Perfektion, sondern in der Echtheit, in der Authentizität.
Ein Leben, das keine Narben trägt, das keine Stürme erlebt hat, das ist wie eine Teeschale, die nie den Ofen von innen gesehen hat. Es mag äußerlich perfekt wirken, doch fehlt die Tiefe, die Resonanz, die Fähigkeit, uns zu berühren und in uns etwas zum Klingen zu bringen. Es fehlt das, was die Japaner wabi-sabi nennen – die Schönheit des Unvollkommenen, des Vergänglichen.
Diese Teeschale hat die Hitze des Ofens überstanden, hat sich unter der Flamme verändert, wurde gehärtet und zugleich in ihrer rohen Unvollkommenheit gefeiert. Sie ist ein Symbol für echte Resilienz. So wie die Schale die Glut überstand, überstehen wir die Krisen des Lebens. Die Spuren dieser Krisen – seien es Falten, graue Haare, gebrochene Herzen oder verwundete Seelen – sind nicht Makel, die es zu verbergen gilt, sondern Zeichen des Überlebens, des Wachsens, des Lernens.
Es ist nicht der Erfolg, der ein Leben erfüllt – es ist die innere Berufung, die uns dazu antreibt, weiterzumachen, selbst wenn der Weg steinig ist und wir an einigen Stellen gescheitert sind. Es ist die Freude an der Kreativität, am Wachsen und Werden, die uns erfüllt. Das Leben, wie die Kurinuki-Schale, trägt die Spuren seiner Herstellung offen zur Schau und lädt uns ein, diese Spuren nicht nur zu akzeptieren, sondern zu feiern.
Es klingt sehr pathetisch, das ist mir bewusst, aber vielleicht ist das wahre Geheimnis eines erfüllten Lebens genau das: zu verstehen, dass die Unebenheiten, die Spuren, die wir im Leben tragen, keine Fehler sind, sondern die Markierungen eines Weges, den wir mit Mut und Hingabe gehen.