Kreis (Ensō)

Die Unendlichkeit des Kreises ist in der Endlichkeit des Papiers verborgen.
Der Schlüssel liegt nicht im Verstand.

Torsten Gripp - Kreis im Tagebuch

Ein Kreis. Ein Augenblick.

Es gibt Momente, in denen der Zweifel schweigt.
Nicht weil er überwunden ist, sondern weil er keinen Platz hat.
Ein kurzer Raum im Strom der Zeit, offen, still, gegenwärtig.
Dort beginnt das Ensō.

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Ich greife zum Pinsel.
Das Papier liegt vor mir
Seide, vielleicht Bütten.
Ich atme. Dann bewege ich die Hand.
Ein einziger Strich.
Schnell.
Unumkehrbar.

Der Kreis entsteht nicht durch Planung.
Nicht durch Technik,
nicht durch Wollen.
Er ist ein Abbild dessen, was in diesem einen Augenblick in mir lebt –
und was zugleich durch mich hindurchgeht.

Der Ensō ist kein Symbol für Vollkommenheit.
Er ist das Gegenteil:
ein Zeugnis dafür, dass etwas im Unvollkommenen aufleuchtet,
wenn der Wille weicht und das Sehen beginnt.

Ich sehe keinen Kreis.
Ich sehe mich.
Nicht als Figur, nicht als Gedanke.
Sondern als Spur einer Bewegung,
die frei ist
nur für diesen Atemzug.

Es ist keine Übung.
Es ist kein Werk.
Es ist eine Geste.
Ein Zeitstempel meiner Präsenz.
Vergänglich, wie der Moment,
dem sie entstammt.

Ich habe nie versucht, schön zu malen.
Ich habe nicht einmal versucht, richtig zu sein.
Nur gegenwärtig.
Nur da.

Ein Ensō ist kein Bild für die Wand.
Es ist eine Frage an den, der es sieht:
Warst du je ganz bei dir?
Kennst du diesen einen Punkt,
an dem alles in dir still wird
und du einfach bist?

Dabei male ich eigentlich keine Kreise.
Ich setze Zeichen des Loslassens.
Zeichen dafür, dass etwas sich zeigen darf –
nur dann, wenn ich nichts mehr kontrolliere.

Die Farbe trocknet schnell.
Was bleibt, ist die Spur.
Wie der Abdruck eines Vogels im Schnee.
Vergänglichkeit hat ihr eigenes Gewicht.

Der Kreis schließt sich nicht immer.
Manche Ensōs bleiben offen –
weil auch das Leben offen bleibt.
Nicht jeder Bogen muss sich schließen.
Manche Kreise sind nur Andeutungen,
und gerade darin voll.

Der Pinsel liegt wieder still.
Das Papier atmet seine eigene Ruhe.
Ich sehe, was ich nicht gesucht habe:
ein Bild ohne Absicht,
geboren aus dem einen Moment
zwischen Zweifel und Klarheit.

Kein Meisterwerk.
Kein Ziel.
Nur ein Kreis.
Und in ihm:
ich selbst.