Kulissenwechsel

Wenn ich reise,
fahre ich nicht weg.
Ich fahre hin.

Wege, die mir gehören

Und dann ist da diese Sache mit der Freiheit.
Sie war lange nur ein Wort.
Ein Versprechen am Horizont.
Ein Gedanke in den Pausen zwischen Verpflichtungen.

In den ersten drei Vierteln meines Daseins
war ich gefesselt – nicht aus Bosheit,
sondern aus Bindung.
An Eltern, die mich prägten.
An Schulen, die mich formten.
An einen Beruf, der Zeit forderte.
An einer Beziehung, die ich aus Liebe einging
und die mich doch zuweilen festhält
wie ein zu eng geknöpftes Hemd.

Verantwortung ist wichtig.
Sie gibt Sinn.
Aber sie nimmt auch Raum.

Jetzt,
im letzten Viertel meines Lebens,
beginnt etwas Neues.
Etwas Leises, Kostbares:
die Rückkehr zur Freiheit.
Nicht mehr als jugendlicher Aufbruch.
Sondern als reife Ernte.
Ein langsames Lösen aus den Klammern der Lebensordnung.
Ein Innehalten.
Ein Wiederentdecken des Eigenen.

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Ich habe mir ein Reisemobil ausgebaut.
Einen schlichten VW Caddy,
kein Luxusmobil, kein Statussymbol.
Ein Fahrzeug mit Ecken, mit Eigenheiten,
mit genau dem richtigen Maß an Platz und Poesie.
Ein Zimmer auf Rädern.
Ein Zuhause auf Zeit.
Ein Kokon, der mich trägt,
nach außen wie nach innen.

Wenn ich fahre,
fahre ich nicht weg.
Ich fahre hin.
Hin zu Landschaften,
die mich zum Staunen bringen.
Zu Orten, die Geschichten erzählen,
ohne laut zu werden.
Zu Menschen, die ich nicht suche,
aber manchmal finde.
Und zu mir selbst.
Immer wieder.

Es ist nicht mehr das Reisen von früher.
Kein Urlaub mit festen Zielen.
Kein Abhaken von Sehenswürdigkeiten.
Sondern ein anderes Unterwegssein.
Ein Zuwenden.
Ein Sich-treiben-lassen.
Eine kleine Pilgerfahrt ohne Dogma.
Kein Muss.
Kein Soll.
Nur Sein.

Ich entscheide spontan,
wohin ich fahre.
Ich wähle die Richtung
nicht nach Attraktionen,
sondern nach Atmosphäre.
Manchmal lockt mich ein Name auf der Landkarte.
Manchmal der Nebel über einer Wiese.
Und manchmal ist es einfach die Lust,
den Motor zu starten
und zu schauen, wohin mich der Tag trägt.

Ich halte an, wo es mich berührt.
Ein stiller See.
Ein Feldweg.
Ein Blick über die Hügel.
Ein Gespräch mit einem Fremden,
der plötzlich vertraut wirkt.
Ich koche mir Kaffee auf dem Gaskocher.
Ich sitze auf der Ladefläche
und schaue in den Abend.
Ich höre dem Regen auf dem Blechdach zu.
Und spüre:
Ich bin genau da, wo ich sein soll.

Freiheit bedeutet heute nicht mehr,
alles tun zu können.
Sondern nicht mehr alles tun zu müssen.
Ich darf einfach da sein.
Eine Nacht auf dem Parkplatz – irgendwo
wirkt oft tiefer,
als ein Hotel mit fünf Sternen.
Das Geräusch eines fließenden Flusses
kann mir mehr sagen als jede Nachrichtensendung.

Ich lese.
Ich fotografiere.
Ich schreibe.
Ich zeichne.
Ich beobachte die Welt.
Ich höre die Vögel,
die Stille,
das Leben.

Das ist das große Geschenk dieses Lebensabschnitts:
Ich muss niemandem mehr beweisen,
wer ich bin.
Ich darf es einfach sein.
Ich darf langsamer werden.
Tiefer schauen.
Offener hören.
Ich darf mir selbst gehören.
Und der Welt.
Gleichzeitig.

Vielleicht ist das Reisen im letzten Viertel
kein Weg in die Ferne.
Sondern eine Heimkehr.
In das,
was wesentlich ist.

Torsten Gripp | Kleine Europareise

Vom Erlaubtsein

Das Wort „Urlaub“ klingt heute nach Sonne, Sand und Hotels mit Halbpension.
Doch sein Ursprung liegt weit entfernt von Liegestühlen.
Er führt zurück in eine Welt,
in der Erholung nicht selbstverständlich war,
sondern gewährt werden musste.

„Urlaub“ – das hieß einmal: Erlaubnis.
Ein altdeutsches Wort, „urloup“,
gewachsen aus zwei Wurzeln:
„ur“ – das Ursprüngliche,
und „laub“ – die Erlaubnis, das Laub der Zustimmung.
Wer Urlaub hatte, war nicht einfach weg,
er war entlassen.
Nicht aus Pflichten,
aber aus dem Alltag der Zugehörigkeit.

In den Dörfern vergangener Jahrhunderte
war das Wort ein seltenes Gut.
Knechte und Mägde,
die nach Wochen harter Feldarbeit
die Ernte eingebracht hatten,
fragten um Urlaub.
Und das hieß nicht:
Wo soll’s hingehen?
Sondern:
Darf ich gehen?

Nur wer den Segen des Hofherrn erhielt,
durfte den Platz verlassen,
für einen Tag, für zwei.
Der Urlaub war ein Zeichen der Gnade,
eine kleine Öffnung im dichten Gewebe der Arbeit.
Ein kurzes Loslassen,
aber nicht ohne Blick zurück.

Das Wort trägt diesen Ernst noch immer in sich,
auch wenn er oft übertönt wird
vom Dröhnen der Startbahnen und den Slogans der Reiseveranstalter.
Denn Urlaub, in seiner Tiefe,
meint mehr als bloßes Wegsein.
Es meint:
Erlaubt-sein.
Freigegeben.
Herausgenommen aus dem Müssen,
hineingestellt ins Dürfen.

Intuitiv spüren wir gerade heute,
wo alles jederzeit möglich scheint,
wie kostbar dieser Moment ist,
in dem wir uns selbst erlauben,
still zu werden.
Zu ruhen,
nicht als Flucht,
sondern als Haltung.
Nicht um zu konsumieren,
sondern um zurückzutreten –
in das Eigene.

Urlaub im alten Sinn ist ein Geschenk der Unterbrechung.
Ein Zwischenraum.
Ein kurzes Schweigen
im Satz des Lebens.
Ein Ort,
an dem nichts getan werden muss,
damit etwas geschehen kann.

Es ist nicht ausgeschlossen,
dass darin die neue Kunst des Reisens liegt:
nicht dem Außen zu entfliehen,
sondern sich selbst
für einen Moment
zu erlauben.