Ein Gefäß als Kunst

Die Kunst in den Händen halten – von einer Teeschale und dem Leben.

Manchmal sieht man plötzlich etwas, das man tausendmal gesehen hat – und es ist, als sähe man es zum ersten Mal. Eine Teeschale zum Beispiel. So ein einfaches Ding. Man greift danach, ohne nachzudenken, fühlt ihre Rundung in der Hand, hebt sie an, trinkt. Und dann kommt die Frage: Kann so etwas Gewöhnliches Kunst sein?

Kunst, das ist doch das, was in Museen steht, unter Glas, auf Sockeln. Etwas, das man betrachtet, aus der Ferne bewundert. Aber vielleicht ist das nur die halbe Wahrheit. Vielleicht ist Kunst nicht nur das Erhabene, sondern auch das, was uns jeden Tag begleitet. Vielleicht ist sie nicht nur zum Anschauen da, sondern zum Anfassen, zum Benutzen.

Eine Teeschale lebt erst durch die Berührung. Ihre Geschichte liegt nicht im Ausstellungsraum, sondern im Alltag. Sie erzählt mit ihrer rauen Oberfläche von Feuer und Händen, von Erde und Wasser. Wenn die Lippen den Rand berühren, beginnt ein stiller Dialog – nicht nur mit dem Gefäß, sondern auch mit dem Moment.

Torsten Gripp | Farbig und doch Kurinuki | 2024


Zen-Meister wussten das immer. Sie haben nie gefragt, ob eine Teeschale Kunst ist. Sie haben sie einfach gemacht, geformt, glasiert, gebrannt – nicht als Produkt, sondern als Übung. Eine Schale entsteht wie ein Gedanke. Sie ist kein Gegenstand, sondern eine Spur. Eine Spur von Stille, von Konzentration, von Hingabe.

Vielleicht ist es genau das: Die Kunst steckt nicht in der Teeschale selbst, sondern in dem, was sie in uns auslöst. Sie ist nicht in der Form, sondern in der Pause, die sie uns schenkt. Im warmen Gewicht in der Hand, in der Sekunde, in der man innehält. Und genau da, zwischen dem Einatmen und dem ersten Schluck, öffnet sich ein Raum – ein Raum, in dem die Zeit anders fließt.

Dort, in diesem Raum, kann man plötzlich hören, was sonst übertönt wird: das leise Pochen des Herzens, das Rauschen des Atems. Und dann versteht man vielleicht, dass Kunst nicht immer groß sein muss. Manchmal reicht eine kleine, schlichte Schale.

Torsten Gripp | Kurinuki | 2024