Interview mit einem Schutzengel

Von Gedankenmöbeln, Herzstillzeiten und einem Engel, der bleibt: Ein leises Gespräch mit Friederike.

Man muss sie nicht rufen.
Friederike kommt, wenn sie es für richtig hält.

Manchmal ist das mitten in der Nacht.
Oder beim ersten Schluck Kaffee.
Einmal stand sie sogar neben mir in der Schlange beim Bäcker, aber ich hab’s zu spät gemerkt.
Sie hat nichts gesagt, wie immer eigentlich. Nur die Augen verdreht, als ich Dinkelbrötchen bestellte.

Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass sie mein Schutzengel ist. Nicht so eine mit Flügeln aus Licht und Harfenmusik. Eher die Sorte, die sich einen leisen Kommentar verkneift, während sie dir den dritten Denkfehler des Tages aus dem Weg räumt. Oder sich räuspert, wenn du zum hundertsten Mal den selben Unsinn planst. Diesmal „nur ein bisschen anders“.

Heute hat sie sich endlich zu einem Gespräch bereit erklärt. Sie sitzt mir gegenüber auf dem alten Holzstuhl mit dem wackligen Bein. Die Hände gefaltet. Die Lippen dünn. Der Blick so klar, dass man sich ein bisschen zusammenreißt, ohne es zu merken.

Ich frage:

„Wer bist du eigentlich?“

Ich bin Friederike.
Dein Schutzengel.
Spurensammlerin.

„Wie wird man Schutzengel?“

Sie zieht eine Augenbraue hoch. Die andere bleibt gelassen.
„Indem man dableibt. Auch wenn’s mühsam wird.“ – flüstert sie.

Dann sieht sie mich an. Lange.

„Ich war schon da, als du dachtest, du müsstest erst jemand werden. Ich kannte dich noch mit Sand in den Hosentaschen. Ich hab deinen ersten Kummer getragen, als du noch gar nicht wusstest, dass man das nicht alleine muss.“

„Und warum ausgerechnet ich?“

Sie zuckt mit den Schultern.
„Du bist der Sohn meines Bruders. Und mein Lieblings-Patenkind. Unverbesserlich. Mit einem Herz wie ein Fenster, das immer einen Spalt offensteht. Aber auch mit einem Hang zum Verzetteln, zum Rückzug, zur leisen Selbstsabotage.“

Sie sagt das ohne Groll. Ohne Urteil.
Einfach so.
Als wäre es ein Teil des Jobs: Zusehen, wie jemand stolpert. Und nicht unbedingt einzugreifen – es sei denn, die Richtung stimmt gar nicht mehr.

„Was genau machst du eigentlich?“, frage ich.
„Also außer… beobachten?“

Sie überlegt.
„Ich übersetze dir das Leise. Ich halte deine Sinne offen, wenn du verzweifelst. Und ich erinnere dich daran, dass deine Gedankenkinder atmen dürfen.“

Ich will etwas sagen, aber sie hebt die Hand.
„Nicht jeder Engel will glänzen. Manche wollen einfach nur, dass du den nächsten Satz schreibst.
Oder die nächste Keramik brennst. Oder endlich verstehst, dass du nicht repariert werden musst. Nur erinnert.“

Dann nimmt sie einen Schluck Tee – oder tut so.
Aus einem Becher, den es vorher nicht gab. Am runden Tisch aus Gedankenholz. Die Luft riecht nach frisch aufgebrühtem Zweifel. Friederike ist noch da. War nie weg. Jetzt wird es zauberhaft.

Ich frage weiter.
Und sie antwortet.

„Was ist das Schwierigste an deinem Job mit mir?“

Sie verzieht keine Miene.
Aber ich sehe das kleine Zucken im rechten Augenwinkel. „Du hörst oft nur, wenn es laut wird.
Aber ich spreche leise.
Sie sieht mich an.
Nicht vorwurfsvoll. Nur… wach.
Dann lehnt sie sich zurück.

„Was wäre anders, wenn du nicht da wärst?“

Sie lacht.
Genau, wie meine Tante Friederike es immer getan hat.
„Wahrscheinlich hättest du inzwischen irgendeinen Podcast über Achtsamkeit gestartet. Oder einen Lebensratgeber geschrieben. Ohne zu merken, dass du selbst, als Lehrling, noch mittendrin bist, im Leben.“

Dann wird sie wieder ernst.
„Du würdest die Schönheit vergessen. Nicht komplett. Aber du würdest sie übersehen. Und das wäre schlimmer.“

Ich nicke.
Weil ich weiß, dass sie recht hat.
Und ganz spontan leide ich an Klarheitsweh.

„Und wie ist das so – mit all den Stimmen in meinem Kopf?“

Jetzt lächelt sie tatsächlich.
Fast zärtlich.

„Es ist wie ein Bahnhof bei Dauerregen.
Züge, die sich verspäten. Durchsagen, die keiner versteht.
Aber inmitten des Lärms gibt es da einen kleinen Schalter.
Eine Stimme, die nicht schreit.
Die bist du.
Wenn du still wirst.“

Ich atme.

„Und wenn ich mich verliere?“

„Dann zünde ich irgendwo eine Erinnerung an.
Eine aus der Kindheit.
Oder ich flüstere dir ein Wort ins Ohr, das dich zurückholt.
Neulich war es: Seelenarchitektur.
Hat funktioniert, oder?“

Ich erinnere mich.
An den Moment, in dem alles kurz ganz war.

„Was wolltest du mir nie sagen?“

Jetzt schweigt sie.
Lange.
Ich denke schon, sie antwortet nicht mehr.
Aber dann:

„Dass ich dich manchmal beneide.
Um deine Zerbrechlichkeit. Sie ist anstrengend. Und schön.
Du kannst fühlen und daran wachsen.“

Ich will etwas sagen.
Aber mir fällt nichts ein, was nicht hohl klingt.

Sie steht auf. Geht langsam zum Fenster.
Sie sieht hinaus – obwohl draußen nichts ist, außer Weiß.
Ein Zwischenraum. Sie blickt zurück:

„Jeder Mensch bewohnt ein inneres Haus.
Mit vielen Zimmern.
Manche dunkel. Manche voller Staub.
Aber in jedem dieser Zimmer kann Licht sein.
Nicht immer zur selben Zeit.
Aber irgendwann. Und richte den Menschen aus,
dass sie nicht allein sind.
Nicht im Wind. Nicht im Zweifel. Nicht im Übergang.“

Sie dreht sich wieder um.
Leicht.
Wie jemand, der weiß, dass das Wichtigste gesagt ist.

Dann ist sie still.
Nur das Ticken meiner alten Wanduhr ist zu hören.
Und das feine Nachglühen ihrer Worte.
Wie ein Duft, den man nicht benennen kann.
Aber der bleibt.

Fortsetzung folgt