Sie kam angeradelt.
Die Schwester meines Vaters.
Mit einem Lachen, das den Wind aufhob.
Ein Pullover mit Punkten. Ein weiter Weg. Und keine Eile.

So sah sie aus, in den Sechzigern. Auf dem Foto, das jetzt an meiner Wand hängt. Sie fährt mir entgegen, jeden Tag. Unermüdlich. Eine Zeitzeugin mit Glockenlachen. Mein Schutzengel Friederike.
Früher wohnte sie zwei Straßen weiter. Heute wohnt sie über den Wolken, sagt sie. Eine kleine Wohnung im Himmel, mit Balkon und Blick auf mein Herz. Jetzt, in ihrem neuen Job als Himmelsfrau, ist sie wieder ganz sie selbst. Mit Zigarette. Mit einem guten Rotwein. Mit ihrer Altstimme, die sogar die Wolken sortieren können. Sie hat wieder angefangen zu zeichnen. Tusche auf handgeschöpften Papier, meistens. Engel sind frei in der Wahl der Materialien.
Früher hingen ihre Bilder neben echten Männern. Feininger. Klee. Nolde. Als wäre das nichts Besonderes. Ich durfte mein erstes Bild auch an ihre Wand hängen. Es war ein verwaschenes Bild mit zu viel Himmel. Aber sie hat es gerahmt. Und nie wieder abgehängt.
Ihre Adresse:
Himmel
Regenbogenallee
7. Stock.
Ihr Alltag im Himmel ist schlicht. Sie gießt morgens die Wolken. Sortiert Lichtstrahlen nach Gefühl. Kocht Kaffee für Heilige, die sich verlaufen haben. Und notiert still, was keiner merkt: Ein gutes Wort. Eine zögernde Umarmung. Ein Kinderlachen im Supermarkt.
In ihrer Wohnung riecht es nach Orangenblüten und Kaffee. Ihr Tisch ist immer gedeckt. Für Gespräche. Für Besuch. Für Rückspür. Was sie mit mir zu tun hat? Alles. Und manchmal zu viel.
Ich gebe zu: ein Pflegefall der Seele war ich oft. Empfindlich gegen Licht, aber zu stolz für Schatten. Friederike war immer da. Ist da. Wird da sein. Sie hat nie groß geredet über Erziehung. Aber sie hat es getan. Mit Blicken. Mit Pausen. Mit einem Sätzerinnen-Herz, das die Welt Satz für Satz ordnete, ohne zu diktieren.
Sie war viel unterwegs. Und ich durfte oft mit. In Zügen, die klapperten wie Geschichten. Auf Märkten, die nach Zimt und Ziege rochen. In Museen, die still waren wie Kirchen, nur freundlicher. Sie zeigte mir die große Welt. Und dass man darin klein sein darf. Und lachen. Und scheitern. Und wieder lachen. Vor einiger Zeit hat sie ihre himmlische Arbeit aufgenommen. Einfach so. Ohne Aufhebens. Sie wacht. Aber nicht streng. Ich glaube, sie könnte es auch gar nicht.
„Du fällst nicht tief,“ sagt sie. „Ich bin ja da.“
Und wenn ich wieder zu schnell denke, zu wenig fühle, lässt sie etwas fallen. Eine Tasse. Ein Gedanke. Oder pustet mir ins Gesicht. Dann lache ich laut. Einfach so. Und weiß: sie war es.
Manchmal, wenn mir der Tag zu schwer wird, holt sie tief Luft.
Und steigt auf ihr altes Rad.
Fährt los, mir entgegen.
Nicht in der Luft, sondern durch mich hindurch.
Dann weht es in mir.
Wie eine Erinnerung, die Zukunft spielt.
In ihrer Küche hängt ein Kalender ohne Wochentage.
Sie sagt: „Zeit ist was für Anfänger.“
Wenn sie Feierabend hat, so gegen Sonnenuntergang,
setzt sie sich auf ihren Balkon über meinem Herz.
Zündet eine Sternschnuppe an.
Und lauscht.
Mir.
Dem Wind.
Dem Leben, das ich fast überhört hätte.
Sie hat himmlische Werkzeuge.
Natürlich.
Ein Füller, der mit Sonnenstaub schreibt.
Ein Löffel für Trost.
Ein Schlüsselbund für verschlossene Tage.
Und einen Besen aus Möwenfedern, mit dem sie meine Sorgen auskehrt – leise, damit ich nicht aufwache.
Sie hat Freunde dort oben.
Den alten Herrn Sturm, der früher Lokführer war.
Eine Bauersfrau namens Elsbeth, die Wolken bindet wie Blumensträuße.
Und einen Engel in Ausbildung, der noch lernt, wie man schweigt.
Sie schreibt mir Briefe aus Licht.
Nicht mit Tinte.
Es sind kleine Erscheinungen.
Ein Schimmer auf dem Wasser.
Ein Duft im Vorbeigehen.
Ein Satz, der mir zufliegt, wenn ich nicht mehr suche.
Sie kommen ohne Adresse.
Aber treffen immer dorthin, wo ich offen bin.
Und wenn ich sie dann finde,
mitten im Lärm oder mitten in mir – weiß ich wieder, wohin ich gehöre.