Der Kreuzling

Ich habe diesen Stein im Rhein gefunden. Er lag nicht da wie einer von vielen. Er wollte aufgehoben werden. Von mir. An diesem sonnigen Tag.

Er trägt ein Kreuz in sich. Kein Menschenwerk, kein Hammer hat es geschlagen. Es ist gewachsen, Schicht um Schicht. Wie ein geheimer Plan der Erde. Sandstein und Quarz, Weiches und Hartes vereint. Zwei Gegensätze, die zusammen ein Zeichen bilden.

Es heißt, jeder Stein hat ein Gedächtnis. Dieser hier trägt mehr als nur Geschichten. Ich spüre es, wenn ich ihn in der Hand halte. Und wenn ich die Augen ganz fest zumache, sehe ich einen Mönch, der ihn lange vor mir am Ufer fand. Ein Bruder in brauner Kutte, dessen Hände nach Arbeit und Gebet rochen. Er bückte sich, hob den Stein auf, und das Kreuz darin brannte sich in seine Augen. Für ihn war es ein Befehl, ein Trost, ein Zeichen Gottes, das nur ihm geschenkt war. Er trug ihn mit sich, Tag und Nacht. Vielleicht legte er ihn auf den Altar. Vielleicht hielt er ihn, wenn die Zweifel kamen.

Doch der Stein wollte nicht bleiben. Er entglitt ihm am gleichen Flussufer, an dem er ihn einst fand. Und der Rhein nahm ihn zurück. Vielleicht war es der Wille des Steins. Vielleicht war seine Zeit bei diesem Mönch zu Ende. Seitdem wanderte er im Wasser. Jahrhunderte lang. Er sah Brücken stürzen, Schiffe sinken, Kriege toben. Er sah Pilger, Händler, Könige am Ufer. Er hörte Glocken und Kanonen, Lieder und Schreie. Doch er blieb. Er rollte, schliff sich, wartete.

Nun ist er bei mir.

Ich bin nicht der Erste. Vielleicht auch nicht der Letzte. Dieser Stein gehört niemandem. Er wählt, wen er begleitet. Heute bin ich es. Morgen vielleicht ein anderer.


Er erinnert mich daran, dass das Heilige nicht im Glanz wohnt, sondern im Schlichten. Dass ein Kreuz nicht nur an den Tod erinnert, sondern an Schnittpunkte: von Zeit und Ewigkeit, von Erde und Himmel, von meinem Leben und einem anderen, längst vergangenen. Ich könnte ihn in eine Kiste legen, tief verborgen wie einen Schatz. Ich könnte ihn in meiner Tasche tragen, als stummen Begleiter. Ich könnte ihn auf meinen Tisch legen; er ist schwer genug, um das Flüchtige niederzuhalten. Doch egal, was ich mit ihm mache: Er bleibt mehr, als er scheint. Denn dieser Stein ist nicht nur Gestein. Er ist mein ganz persönliches Evangelium. Ein Seelenstein, ein Kreuzling, der durch die Jahrhunderte reist. Ein Hüter, der seine Besitzer selbst aussucht. Eine Reliquie, ohne Altar, ohne Reliquiar. Und wenn ich ihn wieder verlieren sollte, auf einer Wiese, auf meinem Weg durch das Leben, vielleicht sogar erneut hier im Rhein, dann wird er weiterwandern. Er gehört ja nicht mir. Er gehört dem Universum.
Bis jemand anderes ihn bekommt. Und auch er wird es spüren: Dieser Stein hat einen Willen.

Und er trägt ein Kreuz.