Der hängende Mann

Manchmal steht die Welt Kopf. Oder man selbst. Und wenn das passiert, ist guter Rat teuer. Zum Glück gibt es die Tarotkarten, die einem, je nach Tagesform, entweder einen Schauer über den Rücken jagen, zum Nachdenken oder zum Schmunzeln bringen.
Für mich heute also: Der Hängende Mann.

Was für eine Karte! Ein Mensch, verkehrt herum aufgehängt, als hätte er die Schwerkraft herausgefordert und verloren. Kein erfreulicher Anblick auf den ersten Blick. Doch auf den zweiten eine Offenbarung.

Der Hängende Mann ist kein Opfer. Er ist ein Denker, ein Waghalsiger, ein Philosoph in akrobatischer Pose. Während andere die Welt aus ihrer gewohnten Perspektive betrachten, hat er sie auf den Kopf gestellt. Er hängt da, das Bein sorgsam verschränkt, die Arme locker, und ein feiner Nimbus leuchtet um seinen Kopf. Ein Heiliger? Ein Narr? Vielleicht beides.

Besonders bedeutend für mich ist das Tau, an dem er hängt. Es ist nicht irgendein Balken, nicht einfach eine beliebige Befestigung. Es ist das Tau-Kreuz, das Zeichen des heiligen Franz von Assisi. Ein Symbol der Demut und des Vertrauens, das schon viele vor ihm getragen haben. Franz von Assisi wählte dieses Zeichen als Ausdruck seiner Hingabe, seiner radikalen Lebenswende, seiner Loslösung vom Alten, um dem wahren Leben näherzukommen. Es ist ein Zeichen des Dienens, der Verwandlung und der Offenheit für das, was wirklich zählt. Der Hängende Mann gibt sich dieser Klarheit hin. Er kämpft nicht gegen das Seil, sondern nimmt seine Position ein, lässt los, um Neues zu gewinnen. Sein Opfer ist kein Verlust, sondern eine Wahl.

In einer Welt, in der Stillstand als Rückschritt gilt und Nachdenken als Zeitverschwendung, ist es ein gewagter Schritt, sich bewusst in die Schwebe zu begeben. Doch genau das tut er. Er bleibt hängen. Nicht aus Schwäche, sondern aus Leidenschaft. Er gibt sich hin, aber nicht auf. Er verzichtet auf Bewegung, aber nicht auf Erkenntnis. Sein Herz ist höher als sein Kopf, und genau das macht den Unterschied. Denn wahre Weisheit kommt nicht aus dem Verstand allein. Sie kommt aus dem Herzen, aus dem Vertrauen, aus der Hingabe an das, was wirklich zählt.

Der Hängende Mann macht mir keine Angst. Ich bin nicht erschrocken. Es ist keine Karte der Niederlage, sondern der Umkehr. Sie fordert mich dazu auf, das Gewohnte zu hinterfragen, das Feste zu lösen, sich vom Alten zu lösen, um Neues zu denken. „Metanoeite“, war der Wahlspruch vom heiligen Franz: Denkt neu! Keine leichte Aufgabe, aber eine lohnende.

Viele lächeln, wenn sie vom Tarot hören. Ein Spiel, sagen sie. Zufall, Hokuspokus. Doch wer sich wirklich darauf einlässt, spürt, dass es mehr ist. Eine Karte zu ziehen bedeutet nicht, sich einem beliebigen Schicksal zu beugen. Es bedeutet, sich einen Moment der Klarheit zu nehmen, sich in dem Spiegel zu betrachten, den das Leben einem hinhält. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich dem eigenen Inneren zuzuwenden, nach Antworten zu suchen, die in einem selbst schlummern.

Ich will neue Gedanken zu wagen. Nicht hektisch, nicht verzweifelt, sondern ruhig und gleichmütig. Und wer weiß: Vielleicht ist genau das der Anfang von etwas Wunderbarem.

Schmetterlinge im Formationsflug

Meine Gedanken fliegen wieder. Und sie fliegen ungebeten. Das ist ihr gutes Recht, sagen sie. Schließlich wären sie dafür da. Ich habe es aufgegeben, ihnen zu widersprechen. Ich bin zu schwach.

Grundsätzlich finde ich ja, dass „Gedankenmachen“ eine feine Sache ist. Es fühlt sich an wie eine warme Tasse Tee an einem Regentag – man braucht es nicht zwingend, aber es ist schön. Und manchmal sind die Gedanken so munter, dass ich sie aufschreibe und ins Internet stelle. Eine seltsame Angewohnheit, das gebe ich zu. Manche schütteln den Kopf und murmeln „verrückt“. Andere lesen es mit einem schiefen Grinsen und finden es unterhaltsam. Beides ist mir recht.

Aber am Abend, wenn der Tag langsam die Rollläden runterlässt, dann werden die Gedanken frecher. Sie treiben sich herum wie Straßenjungen in der Dämmerung, laufen in Sackgassen, steigen über Gartenzäune. Sie verlieren sich in Dingen, die mit der Realität nur noch lose verwandt sind.

„Schluss jetzt“, sage ich streng zu mir selbst. „Es reicht. Schlafenszeit.“

Aber wohin mit den Gedankenresten? Sie sind hartnäckig. Klammern sich fest wie Kletten an einer Wollsocke. Und genau wie Kletten haben sie keinen Plan, wohin sie eigentlich wollen. Also stelle ich mir vor, sie wären Schmetterlinge. Zack, alle in Formation. Ich pfeife einmal, und sie ordnen sich wie Kunstflieger am Himmel. Eine elegante Kurve, eine kühne Schleife – und dann: Abflug!

Und ich?
Ich träume von der nächsten Reise nach Portugal.

Vom Ringen um Worte.

Der Ton in meinen Händen spricht in einer Sprache, die keine Übersetzung, keine Buchstaben braucht. Er bäumt sich auf, widersteht, gibt nach. Meine Hände fragen, der Ton antwortet. Oder schweigt. Ein stilles Ringen.

Aber Worte: Manchmal fließen sie, manchmal verweigern sie sich. Und wenn sie kommen, dann oft anders, als man sie erwartet hat. Vielleicht liegt darin eine Art Magie – in der Ungreifbarkeit dessen, was sich formt.
Magie ist nicht Blitz und Donner, kein Spektakel, kein billiger Trick. Magie ist das Unsichtbare, das zwischen den Dingen lebt. Die leise Ahnung, dass da noch etwas ist, das man nicht ganz erfassen kann.

Ein Becher ist ein Becher – oder? Nein. Er ist ein geformter Moment. Ein Abdruck von Zeit. Von Atem. Von Stille. Von mir.

Mein Großvater sprach wenig. Aber wenn er sprach, dann wog jedes Wort schwer. Die Stille war sein Verbündeter, nicht sein Feind. Ich habe ihm oft dabei zugesehen, wie er stumm Dinge in die Hand nahm und wendete, als könnte er ihnen ihr Geheimnis entlocken. Vielleicht hat er das auch. Vielleicht hatte er eine Gabe, die verloren gegangen ist – die, in Dingen zu lesen. Gerade streichen meine Finger über die raue Oberfläche meines Lieblingsbechers, spüre seine Geschichte. Einmal Erde, dann Schlamm, jetzt Becher. Später vielleicht Scherbe.

Torsten Gripp | Kokoro-Keramik | 2025

Gegen den schnellen Hunger nach Sinn

Wir leben in einer Zeit, in der alles schnell gehen muss. Auch das Denken. Die Menschen wollen nicht mehr die Wege sehen, nur noch das Ziel. Sie verlangen nach der Quintessenz, dem extrahierten Gehalt, mundgerecht serviert. Es gibt keine Zeit mehr für Umwege, für Irrwege, für das Verlorengehen. Aber ist nicht gerade das der Weg zur Erfüllung und Zufriedenheit?

Der Becher in meiner Hand hat keine perfekte Symmetrie. Er ist nicht industriell gegossen, nicht aalglatt. Er trägt Narben, Spuren. Der Daumenabdruck in der Keramik ist mein stilles Manifest: Hier war ich – ein Mensch. Und das ist keine Kleinigkeit.

Kokoro-Kurinuki – so nenne ich meine Art zu arbeiten. Ein Wort, das nach mehr klingt, als es erklärt. Ein Wort, das sich nicht in einem Satz auflösen lässt. Es ist eine Methode, aber auch eine Haltung. Die Dinge nicht glätten, sondern ihnen eine Seele geben. Dem Zufall einen Platz einräumen. Dem Unfertigen ein Zuhause geben.

Die Gefahr der leichten Antworten

„Macht korrumpiert“, sagt man. Ich glaube, dass auch Worte korrumpieren können. Zu glatt, zu verführerisch, zu leicht verdaulich – und schon werden sie zu Werkzeugen der Manipulation. Wer die Sprache beherrscht, kann Menschen lenken. Vordenker werden zu Verführern. Ideen werden zu Parolen. Und plötzlich ist das Denken nicht mehr frei.

Mein Großvater wusste das vielleicht. Er wusste, dass Worte Gewicht haben. Dass man sie nicht leichtfertig in die Welt werfen sollte. Ich will es trotzdem wagen. Sprechen, schreiben – aber ohne zu verführen. Ohne zu langweilen. Ein Spagat. Ein Ringen.

Also forme ich weiter. Worte und Ton. Und ich hoffe, dass beides hält. Dass es Menschen gibt, die ihre Hände um einen Becher legen, ihn drehen, spüren – und einen Moment lang innehalten. Denn das ist vielleicht die größte Magie: Der Moment, in dem man für einen Augenblick nicht mehr sucht. Einfach, weil man sich längst gefunden hat.

Wink des Schicksals.

Ich saß in einem Café mit einer Freundin. Wir kamen ins Gespräch.
Hätte ich die Bahn erwischt, wäre dieser Moment nie geschehen. Ein kleines Winken des Schicksals, eine minimale Verschiebung im Alltag, die alles veränderte. Wir sprachen über Vergangenes, über Dinge, die noch offen waren. Und plötzlich wurde mir klar, dass manche Umwege nötig sind, um das Richtige zu finden.

Das Leben gibt uns Hinweise, oft getarnt als Pech oder Zufall. Ein verlorener Schlüssel kann bedeuten, dass wir den falschen Weg eingeschlagen haben. Eine verpasste Gelegenheit kann uns in eine Richtung lenken, die wir nie in Betracht gezogen hätten. Vielleicht ist das Schicksal nichts weiter als eine Aneinanderreihung solcher Momente, winziger Entscheidungen, die erst im Nachhinein Sinn ergeben.

Ich verließ das Café mit einem Gefühl der Verbundenheit. Der Tag war nicht verlaufen wie geplant, aber genau das machte ihn besonders. Vielleicht ist es an uns, nicht gegen den Lauf der Dinge anzukämpfen, sondern zu erkennen, wann wir uns treiben lassen sollten.

Und so gehe ich meinen Weg, zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen klaren Erkenntnissen und kompletten Missverständnissen. Lausche dem Unsichtbaren, stolpere über das Offensichtliche, und ahne das Kommende – oft erst, wenn es schon längst da ist.

Abwarten und Tee trinken.

Abwarten und Tee trinken.
So sagte man früher. Klingt harmlos, ist es aber nicht. Es ist eine Lektion, getarnt als Sprichwort. Eine Ansage an die Ungeduld. Wer es sagt, tut meistens zwei Dinge nicht: Er wartet nicht wirklich. Und Tee trinkt er auch nicht. Er sagt es nur so hin. Dabei steckt da viel drin. Mehr als Dampf und Blätter.

Torsten Gripp | Teezeit | 2024

Abwarten heißt nicht, dass nichts passiert. Es heißt, dass etwas passiert, ohne dass man dauernd dran herumfingert. Die Zeit tut ihre Arbeit. Meistens besser, als man selbst es könnte.

Großvater sagte immer: „Schlaf eine Nacht drüber.“ Klug war er. Denn nach einer Nacht sieht die Welt oft anders aus. Doch in der Nacht selbst? Da geht es rund. Die Gedanken drehen sich, rödeln wie ein altes Karussell. Einschlafen? Pustekuchen. Aber irgendwann wird der Krach leiser. Und morgens, zwischen Kaffeeduft und Katerstimmung, zeigt sich die Wahrheit: Halb so schlimm.

Also: Abwarten. Tee trinken. Aber nicht in Apathie. Sondern in aller Lebendigkeit, in der Geduld, die nicht starr macht, sondern durchlässig. Und wenn kein Tee da ist? Dann eben nur atmen. Ein, aus. Klingt simpel, ist es aber nicht. Geduld ist kein Stillstand. Geduld ist Bewegung, nur leiser. Wie ein Fluss unter einer dicken Eisschicht. Oben sieht es ruhig aus, unten strömt das Wasser. Wer das begriffen hat, spart sich viele Nerven. Und ein paar schlechte Entscheidungen.



Freiheit.

Freiheit.
Ein Wort wie eine Tür, die einen Spalt offensteht.
Dahinter?
Vielleicht eine Lichtung,
vielleicht ein Abgrund.
Wer weiß das schon, bevor er den ersten Schritt wagt?
Es braucht Vertrauen.

Ich erinnere mich.
Kindheit, barfuß am Strand.
Bescheidene Abenteuer in den Sommerferien.
Die Welt war groß, mein Begehren klein: Saure Drops, bunte Bilder, ein funkelndes Versprechen in der Auslage des Kiosks. Doch die Welt verlangte Münzen, und meine Taschen waren oft leer. So begann er, der Mangel. Das Fehlen.

Später, als ich die Schulbank gegen einen Bürostuhl tauschte, hatte ich Münzen, aber keine Zeit. Der Mangel veränderte sein Gesicht. Was ich mir einst ersehnt hatte, lag nun in greifbarer Nähe, doch meine Hände waren zu müde, um danach zu greifen. Also verlernte ich das Wünschen. Schrieb meine Sehnsüchte mit unsichtbarer Tinte, bis ich sie selbst nicht mehr lesen konnte.

Dann kamen die Verluste. Die leeren Stühle an der Tafel des Lebens, die Namen, die nun nur noch in Erinnerungen wohnen. Menschen verschwinden leise, manchmal durch den Tod, manchmal durch Gleichgültigkeit. Manche hinterlassen Spuren, andere nur ein leichtes Flattern im Raum, bevor sie sich auflösen.

Ich halte ihre Stimmen so fest in mir wie ich kann, in flüchtigen Träumen und vergilbten Fotografien. Und vermisse doch so manche warme Hand auf meiner Schulter.

Manchmal flackert es wieder auf, dieses Verlangen
nach Abenteuern,
nach Leben,
nach einer unstillbaren Fülle.
Doch mit dem Wollen kommt auch die Schwere:
Angst,
Druck,
Verspannungen,
ein Körper, der warnend flüstert, wenn die Seele nicht zuhören will.
Die Zeit wird zu einer knappen Währung, die niemals reicht, egal wie klug ich sie einteile.

Also!
Es ist Zeit für besondere Reisen.
Keine Flucht.
Keine Landkarte.
Keine versprochenen Paradiese.

Nur ein Kompass, der nach innen zeigt, in das Dickicht der eigenen Gedanken, in die unerforschten Ecken des Herzens. Es wird wild werden, vielleicht stürmisch, vielleicht heiter. Eine Fahrt durch Nebel und Sonnenlicht, durch Dornen und samtene Wege.

Vielleicht werde ich mich verlaufen,
vielleicht etwas Unbekanntes entdecken.
Vielleicht,
nur vielleicht,
werde ich die Tür weiter aufstoßen und sehen, was dahinter liegt.

Per aspera ad astra.
Ich wage es.

Das unendliche Üben.

Es war einmal ein Mensch, der Tag für Tag seine Hände in die weiche, kühle Erde tauchte. Er knetete, formte, erkannte und begann von Neuem. Der Ton war sein Gefährte, sein Lehrer, sein Spiegel. Und so übte er – nicht, um etwas Bestimmtes zu erreichen, sondern weil das Üben selbst eine Welt war, in der er frei war und atmen konnte.

Manchmal fragte er sich: Wann kommt der große Moment? Wann werde ich erkennen, dass ich angekommen bin? Wann erlebe ich die große Erfüllung? Doch jedes Mal, wenn der Gedanke kam, gab er sich selbst eine Antwort:

Übe. Übe. Übe.

Torsten Gripp | Grüne Becher | 2025

Der Ton hatte kein Ziel. Kein Becher, keine Schale, kein Gefäß sehnte sich danach, fertig zu sein. Alles entstand und wurde zugleich wieder vergessen. Und so kam es, dass auch er, der Töpfer, vergaß – vergaß, was er wollte, vergaß, wohin er strebte. Er wurde eins mit dem Kneten, dem Drücken, dem Ziehen, dem sanften Nachgeben. Und in diesem Vergessen lag eine Freiheit, von der er nicht gewusst hatte, dass sie möglich war.

Er war längst kein Suchender mehr, kein Jäger nach Perfektion. Die Welt, so seltsam und unbarmherzig sie draußen auch sein mochte, wurde in seinem Tun weich und erträglich. Er musste nichts erreichen. Der Tag kam, wie er kam, mit Licht und Schatten, mit Stille und Lärm. Er nahm ihn an, mit staubigen Händen und einem Herz, das im Rhythmus des Übens schlug.

Die Zeit floss dahin, aber sie war kein Feind. Denn jeden Morgen war da die Freude: Ton auf den Händen, das Fassen, das Nachgeben, das Erschaffen. Und am Abend, wenn alles ruhte, war da keine Ungeduld mehr. Kein Mangel. Kein Warten auf den einen Moment, der alles verändern würde.

Denn der Moment war längst da. Und er war es immer gewesen.

Von der Qual der Wahl.

Die Regale sind voll. Reihen an Reihen von Bechern, Schalen, Tellern, Vasen – Zeugen vergangener Momente, eingefangene Augenblicke aus Ton. Ich stehe davor wie ein Wanderer vor einer Karte seiner eigenen Wege. Manche dieser Stücke erkenne ich sofort wieder, als wären sie alte Freunde, deren Geschichten ich mühelos erzählen kann. Andere hingegen? Sie blicken mich an wie Fremde, die ich einst kannte, aber längst vergessen habe. Habe ich sie wirklich geformt? Wann war das? Welche Gedanken hatten mich damals gelenkt?

Die schwarze Schale mit dem ganz besonderen Zauber.

Einige dieser Keramiken fesseln mich noch immer. Sie strahlen eine Zeitlosigkeit aus, die mich verwundert. Andere aber, sie scheinen zu verblassen. Die Zeit ist über sie hinweggezogen, als wären sie nur flüchtige Träume, von denen man am Morgen weiß, dass sie da waren, aber nicht mehr, warum. Sie sind Relikte einer unausgereiften Kunstfertigkeit, Versuche, denen die Seele fehlt. Fast automatisch wandern sie auf den Stapel der Aussortierten.

Und dann gibt es diese anderen Stücke. Sie stehen da, bescheiden, und dennoch mit einer Kraft, die mich innehalten lässt. Ich sehe sie an und erkenne: Hier war der richtige Weg bereits beschritten, aber irgendwo bin ich stehengeblieben, habe den Faden verloren, den Gedanken nicht weitergesponnen. Warum nur? Vielleicht war es der Zweifel, vielleicht ein Moment der Unaufmerksamkeit. Vielleicht war es einfach nicht an der Zeit.

Hunderte Gefäße. Und doch liebe ich nur eine Handvoll von ihnen wirklich. Ein paar dieser Lieblinge haben längst neue Besitzer gefunden. Seltsam – es scheint fast so, als würden immer genau die Stücke gehen, die mir am nächsten stehen. Ist das nur ein Zufall? Oder erkennen andere in ihnen genau das, was mich selbst so berührt? Ich weiß es nicht.

Die Entscheidung, welches Stück in die Welt geschickt wird, fällt nie leicht. Kaum habe ich eines gewählt, drängt sich das nächste auf. Diese Schale oder jene? Dieser Becher oder doch der andere? Mal scheint es eine logische Wahl, dann wieder entzieht sich jede Überlegung einem klaren Muster. Am Ende sind es weder Kalkül noch Analyse, die entscheiden. Es sind andere Kräfte. Etwas Tieferes. Der Bauch, das Herz, ein leiser Ruf, dem ich folge, ohne zu wissen, warum.

Ich bin nicht einer, sondern viele. Ein Kreis von Stimmen, die miteinander ringen, flüstern, lachen, zögern. Der Verstand sitzt dabei, notiert Argumente, wägt ab – doch er ist es nicht, der den letzten Entschluss trifft. Der letzte Impuls kommt aus einer anderen Ecke meines Wesens, aus einem Ort, der keine Begründung braucht.

Die Auswahl fühlt sich an wie ein verwunschenes Spiel, in dem jedes Stück seinen eigenen Willen hat, sich in den Vordergrund drängt oder stumm in den Schatten tritt. Ich greife nach einem Becher, ziehe die Hand zurück. Der nächste, nein, doch nicht – eine unsichtbare Waage schwankt, kippt, richtet sich neu aus. Ist es das Licht, das auf eine Schale fällt, das mich lockt? Oder eine leise Erinnerung, ein Echo aus der Zeit ihrer Entstehung? So viele Stimmen, so viele Zeichen, und doch kein klares Gesetz, das mir sagt, was richtig ist.

Und so wähle ich. Nicht mit Worten, nicht mit Gedanken. Sondern mit jenem ungreifbaren Wissen, das nur in der Stille spricht. Ein letzter Blick, ein leises Nicken – und die Wahl ist getroffen. Oder war es doch das Gefäß, das mich gewählt hat?

Paradox?

Es war einer dieser besonderen Tage in der Werkstatt. Eine Idee hatte endlich Form angenommen. Vor mir stand der Becher, schlicht und still, und für einen kurzen Moment war da nur Freude. Kein Zweifel, kein Flüstern des inneren Kritikers, der sonst wie ein Schatten über meiner Schulter lauert. Doch die Stille war trügerisch. Kaum setzte sich die Freude, begann die Inspektion: Gibt es da einen Makel? Hätte ich es besser machen können? Warum nur, frage ich mich, ist es so einfach, das Ideal der Unvollkommenheit zu lieben, während ich gleichzeitig einer geheimen Perfektion hinterherjage?

Torsten Gripp | Dicker grüner Becher | 2025

Lao Tse würde über diese innere Zerrissenheit wohl lächeln. „Der Weise handelt nicht, und doch bleibt nichts ungetan“, sagt er. Aber wie handle ich, ohne zu handeln? Wie akzeptiere ich das Unvollkommene, ohne es zugleich verändern zu wollen? Es ist diese Spannung, die den kreativen Prozess zu einem eigenwilligen Tanz macht.
Im Kern meiner Arbeit steckt der Wunsch nach einer Balance: Wabi-Sabi flüstert mir zu, dass das Unvollkommene seinen eigenen Charme hat, während mein innerer Kritiker mich antreibt, immer ein Stück weiterzugehen. Es ist ein Spiel zwischen Loslassen und Streben. Vielleicht, so denke ich, liegt genau hier der Zauber. Der Moment, wenn ein Stück aus dem Ofen kommt, ist wie ein kleiner Triumph – nicht, weil es perfekt ist, sondern weil es lebendig ist.

Ich betrachte das Werkstück, drehe sie in meinen Händen, sehe die kleinen Unebenheiten, die misslungenen Stellen, die Spuren des Feuers. Sie erzählen Geschichten, und genau darin liegt eine besondere Form der Schönheit. In diesem Moment wird mir klar: Kunst entsteht nicht trotz der Fehler, sondern durch sie.

Am Ende nehme die Kamera zur Hand und halte das Ergebnis fest. Ein unvollkommenes, perfektes Werk. Vielleicht Kunst, vielleicht auch nur ein stiller Begleiter. Wer weiß?


Die stille Heldin.

Torsten Gripp | Die stille Helding | 2025

Die geflickte Teeschale steht vor mir wie ein Geheimnis. Ihre Risse, sorgfältig mit einem goldenen Draht verbunden, schimmern im Licht wie die Fäden einer unsichtbaren Geschichte. Sie ist keine gewöhnliche Schale. Sie atmet. Sie spricht. Und sie scheint, trotz ihrer Stille, mehr Leben zu enthalten als manche makellose Teeschale.

Neben ihr ruht eine Kristallkugel, durchzogen von Rissen und ebenfalls voller Rätsel, als wäre sie der stille Wächter vergangener Träume. Daneben ein vergoldeter Fisch aus Holz, dessen schimmernde Schuppen Geschichten von Sonnenuntergängen und Wellenflüstern tragen. Sie sind wie alte Freunde, diese drei. Die Schale, die Kugel, der Fisch – jeder mit eigenem Charakter, und doch wirken sie miteinander vertraut, fast wie die drei Musketiere. Jeder von ihnen ein Unikat, aber zusammen ergeben sie ein seltsames, fast magisches Ganzes.
Wenn man die Schale in die Hand nimmt, geschieht etwas Unerwartetes. Sie zieht den jeweiligen Besitzer in ihren Bann, nicht wegen ihrer Makel, sondern wegen des Lebens, das sie ausstrahlt. Die Hand fühlt den rauen Ton, spürt die sanften Unebenheiten, die eine makellose Schale nie besitzen könnte. Und plötzlich ist man kein Beobachter mehr, sondern ein Verbündeter. Die Schale wird zur Gefährtin, zur Lehrerin. Sie erinnert daran, dass Schönheit nicht in der Perfektion liegt, sondern in der Geschichte, die wir tragen. Sie zeigt, dass etwas, das einmal zerbrochen war, nicht weniger wertvoll ist, sondern vielleicht sogar mehr.

Man könnte meinen, die Kristallkugel beobachtet diesen Moment, als würde sie das Band zwischen Mensch und Schale segnen. Der vergoldete Fisch scheint zu lächeln, als ob er längst weiß, dass solche Augenblicke von unvergleichlicher Magie sind. Zusammen entführen sie in eine Welt, in der das Unscheinbare leuchtet und das Kaputte seinen eigenen Glanz hat.