Billige Wahrheiten

Von der Heimlichkeit alter Sprüche und der langsamen Wahrheit im Satzgewand

Sie hängen überall. In alten Küchen. In langen Fluren.
In Herzform gestickt oder gerahmt in Mahagoni.
Zwischen vergilbten Familienfotos und Porzellanenten mit Goldrand.
Spruchweisheiten.
Wortkerne des Alltags.
Lebensschnüre.
Für viele nur Flachgold.
Für mich: die Wahrheit.

Als Kind habe ich mit ihnen lesen gelernt.
„Morgenstund hat Gold im Mund“.
Ich war vielleicht fünf.
Meine Großmutter zeigte auf das gestickte Band über dem Sofa, unter dem Wandteller mit der Alpenszene.
Ich las, was dort stand, und verstand – nichts.
Ich war nur stolz, die Buchstaben zu erkennen.

Später kamen mehr Sprüche.
In Frakturschrift, in Sütterlin, in Schreibmaschinenlettern.
Immer waren sie da.
Als wären sie Teil des Hauses.
Wie der Geruch nach Bohnerwachs und Linoleum.
Wie das Sonntagsblatt in der Tageszeitung.

„Reden ist Silber. Schweigen ist Gold.“
Ein Satz, den ich hasste.
Ich redete gerne.
Zu viel, sagten manche.
Und der Spruch hing dort wie ein stiller Zeigefinger.
Ein kleiner Ordnungsruf, immer in Blickhöhe.

Ich war sieben.
Nun fand ich die Sprüche doof.
Zu alt.
Zu kitschig.
Zu wenig Ich.

Doch dann vergingen Jahre.
Jahrzehnte.
Und der Satz kommt zurück.
Nicht als Mahnung.
Sondern als Erinnerung.
Und als Wahrheit.

Die Weisheit hat kein modernes Gesicht.
Sie trägt keine Sneakers.
Sie kommt nicht auf TikTok.
Sie schreit nicht.
Sie flüstert.
Sie ist unauffällig.
Vielleicht ein bisschen spießig.
Und doch:
Wer laut genug hinliest,
erkennt manchmal das Leben selbst.

„Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“
Ein Satz, über den ich lange gelächelt habe.
Zu schulmeisterlich. Zu lehrbuchartig.

Aber wie oft hab ich’s erlebt:
Neid, List, kleine Gemeinheiten.
Und wie oft hat das Leben dann still und leise zurückgeschlagen.
Nicht aus Rache.
Nur aus Gleichgewicht.

Diese Sprüche sind wie Kiesel am Wegesrand.
Man übersieht sie.
Tritt auf sie.
Und wundert sich, wenn einer im Schuh bleibt.
Und drückt.
Und sich nicht entfernen lässt.

Spruchweisheiten sind keine Philosophie.
Sie sind ihr entfernter Vetter.
Karggescheit.
Alltagstief.
Verdichtet.
Sie sagen, was ist.
Ohne Begründung.
Ohne Diskussion.

Und genau das macht sie so wirkungsvoll.
Sie appellieren an das, was wir längst wissen.
Und doch so gern vergessen.

Ich mag sie nicht alle.
Viele klingen wie Vorschriften.
Andere wie stille Drohungen.
Andere sind voller Liebe.
Die sind für mich wie ein altes Märchen.

„Wer ein Warum zum Leben hat, der trägt auch jedes Wie.“
Das klingt tief.
Und ist es auch.
Nietzsche hat’s gesagt, nicht meine Oma.
Aber sie hätte nicken können.
Weil sie es gelebt hat.

Es ist seltsam:
Diese alten Sprüche,
die mich als Kind genervt haben,
sprechen heute leise in mir weiter.
Ich höre sie in Momenten des Zweifels.
Oder wenn ich das Gefühl habe,
mich selbst verloren zu haben.

Sie sind wie alte Bekannte.
Nicht sympathisch.
Aber verlässlich.
Wie ein Seelenschirm.

Manche Sätze brauchen ein ganzes Leben, bis man sie versteht.
„Geben ist seliger denn Nehmen.“
Als Kind klingt das nach Verlust.
Als Jugendlicher nach Weltverbesserung.
Heute weiß ich:
Es macht frei.

Spruchweisheiten sind keine Erklärungen.
Sie sind Erinnerungen.
Sie erklären nichts.
Aber sie erinnern an alles.

An das, was man tun sollte.
An das, was man nie hätte tun sollen.
An das, was zählt. Und bleibt.

Spruchweisheiten sind keine billigen Wahrheiten.
Sie sind verdichtete Erfahrung.
Geschenkt.
Ohne Garantie.
Aber mit Nachleuchten.

Und das ist das Seltsame:
Sie sind immer da.
Ob man an sie glaubt oder nicht.
Ob man sie beachtet oder überliest.
Sie sitzen im Raum wie die Katze der Großmutter.
Still. Und da.

Ich sehe sie heute mit anderen Augen.
Nicht als Erziehungsversuch.
Sondern als Einladung zur Rückkehr.
Zur Selbstverortung.

Denn manchmal – wenn alles zu laut wird –
ist da dieser Satz,
der kommt
wie ein freundlicher Schatten:

„In der Stille liegt die Antwort.“

Und dann höre ich wieder das leise Ticken der alten Küchenuhr.
Und sehe den Spruch auf Leinen.
Und spüre:

Die Wahrheit ist nicht billig.
Aber einfach.

Und sie kommt
immer zu Fuß.

The Grand Tour

Grand Tour – Notiz vor dem Aufbruch.

Ich bin schon unterwegs. Die Abfahrt ist zwar erst für den 30. April geplant, aber ich bin schon unterwegs.

Die Kutsche, mein altes Auto, steht bereit. Es riecht nach Diesel und Landstraße. Im Handschuhfach liegen Pfefferminzpastillen, im Kofferraum eine Wolldecke. Ich habe noch nicht gepackt. Nur gesammelt. Gedanken. Fragen. Vielleicht auch Sehnsucht, ohne dass ich genau sagen könnte, wonach.

Manchmal gehe ich in der Einfahrt um den Wagen herum. Er steht dort, wie ein Tier, das auf sein Kommando wartet. Geduldig, als wüsste er, dass bald etwas beginnt. Und ich? Ich weiß es auch. Nicht genau, nicht in Worten, aber deutlich. So wie man den Frühling spürt, bevor die ersten Blätter sich zeigen.

Ich nenne die Reise, in Anlehnung an den irischen Gelehrten Thomas Nugent:

The Grand Tour.

Früher zogen junge Männer aus – Kavaliere, Adlige, Studierte. Sie wollten die Welt sehen, sich bilden, sich zeigen, ein wenig glänzen, wenn möglich. Man sandte sie fort mit guten Wünschen und dem unausgesprochenen Auftrag, als jemand zurückzukehren. Als mehr Mensch.

Ich gehe nicht aus Standespflicht.
Ich gehe, weil es jetzt an der Zeit ist.

Nicht in jungen Jahren, sondern in reiferen. Wenn das Leben nicht mehr vor einem liegt wie ein aufgeschlagener Atlas, sondern wie eine geheime Karte, auf der einzelne Orte leuchten. Manche sind noch nicht betreten. Andere möchte ich wiedersehen. Anders.

Acht Wochen will ich unterwegs sein.
Es ist kein Urlaub.
Ich meide das Wort.
Es ist mir zu leicht.
Zu bunt.
Das hier wird kein Sonnenbaden. Es wird ein Gehen durch Wind und Fragen. Eine Reise. Nicht weg von etwas -sondern hin zu Dingen, das ich noch nicht benennen kann.

Ich habe große Erwartungen.
Nicht im Sinne von Spektakel.
Eher wie man erwartet, dass der Morgen langsam heller wird. Dass die Kaffeetasse warm ist. Dass ein Gespräch sich öffnet, ohne dass man es drängt.

Ich erwarte das: ein langsames Öffnen.
Der Landschaft. Des Denkens. Der Erinnerung vielleicht.

Das Smartphone liegt bereit. Mein Hofmaler der Jetztzeit. Ich werde Fotos machen. Nicht viele, nicht laut. Nur dann, wenn die Welt sich zeigt. Ich möchte das Geheimnisvolle sichtbar machen. Nicht das Postkartenhafte, sondern das, was zwischen den Dingen wohnt.

Die Reise beginnt nicht am ersten Tag. Das ist eine alte Erkenntnis. Sie beginnt mit dem ersten Kilometer und… sie beginnt jetzt.
Im Dazwischen. In der Stille vor dem Aufbruch.

Ich höre den Regen gegen das Fenster. Ich höre, wie das Leben sagt: Bald.

Noch bin ich zu Hause.
Aber ich verabschiede mich schon.

Nicht schwer. Nicht melancholisch.
Nur mit einem kleinen, aufmerksamen Herzschlag mehr.

Morgen vielleicht packe ich den ersten Pullover ein. Die neue Leinenhose. Den Reisewecker.
Oder auch erst übermorgen. Ich habe es nicht eilig.
Denn das Eigentliche geschieht ohnehin leise.

Im ersten Schritt.
Im ersten Erleben.
Im ersten Atemzug des Anfangs.

Die Website

Das digitale Wandeln, das Vergessen, die Poesie der Pixel – und einen Schubladenkopf voller Gedankenkinder.

Es war einmal ein Mann, der sich eine Website baute. Keine gewöhnliche, versteht sich – sondern eine Art elektronische Wand aus Licht, auf die er seine Welt warf. Kein Schrei nach Aufmerksamkeit, sondern eher ein leiser Zuruf: „Hier bin ich.“ Eine kleine Bühne, ein digitales Atelier, ein Schaukasten aus Pixeln und Kreativität.
Der Mann – nennen wir ihn, der Wahrheit halber, einfach Ich, das ist ein Wesen mit über sechzig Jahren gesammelter Zeit, einem Herz, das manchmal flüstert, manchmal posaunt, und einer wachsenden Leidenschaft für das Vergängliche.

Es gab eine Zeit, da wollte ich mit meiner Website beeindrucken. Das ist lange her. Damals dachte ich, man müsse „sichtbar“ sein.

Möglichst laut.
Möglichst gut.
Möglichst präsent.

Ein Trugbild. Denn wer zu laut schreit, hört die eigene Stimme irgendwann nicht mehr. Und wer ständig sichtbar sein will, wird unsichtbar in der Menge der anderen, die es ebenso versuchen. Heute gleicht meine Website eher einem kaum erkennbaren Waldpfad. Sparsam ausgeschildert. Kein QR-Code am Anfang, kein Ziel am Ende.

Ein Trampelpfad durch mein Denken, mein Tun, mein Suchen.

Zwischen den Zeilen wachsen Moose, gelegentlich blüht ein Gedanke auf wie eine Waldhyazinthe. Unscheinbar zunächst. Eventuell bemerkenswert. Es raschelt in den Bildern. Es duftet in den Texten. Und man tut gut daran, langsam zu gehen. Wesentliches ist schwer zu erkennen. Aber: Es kann aufleuchten.


Pixelpoesie

Ich schupse gern Pixel. Das klingt ungehobelt, ist aber Feinarbeit. Ich rücke sie zurecht, als wären sie kleine Farbtöpfe auf einer unsichtbaren Staffelei. Statt Pinsel nutze ich eine Tastatur. Statt Leinwand ein CMS-System. Ein weites Feld voller Möglichkeiten, das sich jederzeit verwandeln kann: in ein Gedicht, eine Geschichte, ein Lächeln, eine Blamage.

Manchmal wirft das Licht meiner Gedanken lange Schatten. Dann erscheinen mir meine Worte zu schwer, zu verkopft, zu langatmig. Ich kürze dann. Ohne Reue. Schneide mit der Rücktaste in meine Wortgebilde wie ein Bildhauer ins Holz. Und übrig bleibt – ein kastrierter Satz. Ein Wort. Ein Kichern vielleicht. Und dann? Versteh ich’s selbst nicht mehr. Weil zu viel fehlt. Weil das, was einst warm war, plötzlich nur noch merkwürdig klingt. Also lösche ich alles. Ohne Pathos. Als hätte es den Versuch nie gegeben. Und dann, in einer Serverfarm nahe Irgendwo, zerfallen meine Gedanken zu Datenstaub.


Gedankenkinder

Ich nenne die Texte Gedankenkinder. Kleine Wesen, die unbedingt geboren werden wollen. Ich muss nur aufpassen. Sie kommen plötzlich, stehen in der Tür meines Bewusstseins, schauen mich an wie streunende Katzen – und ich bin zu weich, um sie hinauszujagen.
Also schreibe ich sie auf.
Schnell.
Bevor sie sich wieder verziehen.
Denn Gedankenkinder sind scheu. Was eben noch wie eine Offenbarung wirkt, ist Sekunden später nur noch ein Schatten.
Ein Dunst in der Erinnerung.
Ich muss sie retten.
Auf Papier oder Bildschirm, sonst verlieren sie sich im Alltagsnebel.

Doch wie das mit Kindern so ist: Sie entwickeln sich weiter.
Entfernen sich.
Und wenn ich später zurückkehre, erkenne ich sie oft nicht mehr.
Ich lache, wenn ich alte Texte lese.
Nicht selten schäme ich mich auch.
Ich lösche also wieder und wieder.
Ganz selten, da schau ich sie an, lächle und sage:
Du darfst bleiben.


Der Schubladenkopf

Mein Kopf ist wie ein Dachboden ohne Treppe. Er ist voller Regale, Schachteln, loser Zettel, halbvergessener Melodien und Satzfetzen. Ich habe nie Ordnung gehalten dort oben. Warum auch? Das Chaos hatte immer eine gewisse Logik. Eine poetische sogar. Da gibt es Geschichten, die noch keinen Anfang gefunden haben. Wörter, die sich in Ecken verstecken wie Mäuse. Ideen, die auf bessere Zeiten warten. Und Sätze, die sich selbst vergessen haben. Manche kriechen nachts an mein Ohr und flüstern:

Schreib mich auf.

Jetzt!

Und ich gehorche.
Hin und wieder.


Der digitale Besucher

Von Zeit zu Zeit wandere ich durch meine Website. So, wie andere durch ihren Garten gehen. Nicht auf der Suche nach etwas Bestimmtem. Eher, um zu schauen, wie es den Dingen geht. Den alten Seiten. Den neuen Bildern. Den Gedankenkindern, die ich einst gepflanzt habe. Manche sind gewachsen, andere nicht.

Ich surfe nicht.
Ich spaziere.

Klicke mich durch selbst geschaffene Seiten, als blättere ich in einem Album, das mir nicht mehr ganz gehört. So werde ich zum Besucher meiner selbst. Stehe staunend vor den Spuren, die ich hinterlassen habe. Mit einem Lächeln, oder leiser Skepsis. Bis hin zur völligen Ablehnung. Aber das ist selten.
Immer erkenne ich den Sinn wieder – und das Zögern. Dann weiß ich, erkenne: Das Zögern, dass ist der kleine Bruder der Stille. Das klingt nach Unsicherheit. Und das ist es auch. Doch ich habe sie liebgewonnen, diese Unsicherheit. Sie schützt mich vor dem Hochmut des Besserwissens. Und erinnert mich daran, dass der Weg, auf dem ich kreativ bin, kein gerader ist.


Die Bühne der Eitelkeiten

Das Internet, dieses glitzernde Ungeheuer, ist ein seltsamer Ort. Es ist Bühne und Mülleimer zugleich. Jeder schreit hinein, aber kaum jemand hört zu. Ich schreie nicht. Ich flüstere. Und vielleicht ist es gerade das, was zählt. Ich mag es, dass meine Gedanken dort Platz finden. Und dass ich sie dort jederzeit wiederfinde. Dass ich in der Gegenwart bleiben, aber auch in den nächsten Tag gehen kann, ohne das Gedachte von gestern zu verlieren. Dass sie nicht in einer Schublade verstauben, sondern im Licht der Welt tanzen dürfen. Auch wenn niemand zuschaut.

Ich stelle mich aus, meine Worte, meine Bilder, meine Keramiken. Nicht, um zu prahlen. Sondern weil ich teilen will, was ich sehe. Was ich mache. Und was mich berührt. Ich stelle es ins Netz, wie man früher eine Laterne ins Fenster stellte. Als Zeichen: Hier wohnt noch jemand.


Bescheidenheit – eine Zier?

Natürlich frage ich mich manchmal, ob das nicht alles ein bisschen eitel ist. Ein digitales Selbstporträt. Eine Galerie der Selbstinszenierung. Aber dann denke ich mir:

So what?

Und versuche, bescheiden zu wirken.
Zumindest vordergründig.
Die Bescheidenheit ist mein Tarnumhang.
Mein Trick, um nicht als Angeber dazustehen.
Dabei weiß ich genau, wie stolz ich manchmal bin.
Auf einen guten Satz.
Ein stimmiges Bild.
Eine gelungene Keramik.

Und ist das schlimm? Ich finde nicht. Denn Stolz ist nicht gleich Hochmut. Stolz ist auch: Freude. Dankbarkeit. Ein stilles Lächeln über das, was entstehen durfte.


Kindliche Rückkehr

Jetzt, da ich älter werde, wird vieles einfacher. Ich schreibe, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Ich plappere, wie ein Kind beim Spielen. Ich verliere die Angst vor dem Urteil. Und finde das Spiel des Lebens wieder. Ich tippe Sätze, die ich früher verworfen hätte. Ich lasse Leerstellen. Ich nehme mir das Recht zu stammeln, zu träumen, zu irren. Und siehe da: Die Sätze atmen. Sie leben.
Die Website ist mein Spielplatz geworden. Ein Ort, an dem ich mit Bildern und Worten Burgen baue. Oder sie wieder einreiße. Weil ich’s kann.


Und das große Nichts

Natürlich bleibt am Ende die Frage: Wozu das alles? Warum diese Mühe? Für wen? Und wieso überhaupt?
Ich weiß es nicht. Und das ist das Schöne. Ich muss es nicht wissen. Es genügt, dass es passiert. Dass ich schreiben darf. Dass ich Spuren hinterlasse, auch wenn sie vom nächsten Algorithmus verweht werden.

Ich liebe die Flüchtigkeit.
Sie macht das Ganze kostbar.
Nichts bleibt.
Alles wandelt sich.
Und doch ist da ein kleiner Moment der Dauer.
Ein Gedanke, der gefunden werden kann.
Ein Satz, der hängen bleibt.
Vielleicht.

Der Ratschlag

Vielleicht ist ein Ratschlag ein zu grobes Werkzeug für die feinen Risse in einem Menschen.
Vielleicht ist er zu kantig, zu laut, zu schnell.
Vielleicht will er helfen – aber verletzt,
weil er nicht wartet.
Weil er vorgreift.
Weil er ein Vorgriff ist.
Auf eine Lösung, die gar nicht geboren werden will.

Ein Rat ist oft eine Antwort, die sich wichtiger nimmt als eine Frage, die nie gestellt wurde.
Dabei ist die Frage doch das Eigentliche.
Sie braucht aber kein Pflaster.
Sondern Raum.

Nicht der Ratschläger heilt.
Sondern das Gehörtwerden.
Aber das ist schwer auszuhalten.
Zu sehen, wie jemand leidet, und nichts zu tun.
Nur da zu sein.
Nur zu lauschen.
Nur mitzufühlen.

Wir leben im Sofortland.
Im Lösungsrausch.
Im Hilfmirjetzt-Universum.
Doch innere Wege gehen langsam.
Man kann niemanden durch ein Labyrinth tragen.
Nur begleiten.
Mit einer Kerze.
Vielleicht.

Vom Wunsch, gut zu sein

Es ist ja nicht böse gemeint, das Ratschlagen.
Es kommt oft aus Liebe.
Aus Sorge.
Aus dem Wunsch, gut zu sein.
Aber Gutgemeintes ist kein Ersatz für das Gute.
Und das Gute ist manchmal:
Stille.
Ein Raum.
Eine Tasse Tee.
Ein Wort, das nicht gesagt wird.
Der Mensch gegenüber ist kein Projekt.
Keine Baustelle.
Keine kaputte Uhr, die man auseinandernehmen muss.
Er ist ein Wesen auf dem Weg.
Und Wege brauchen Zeit.

Das Zuviel

Ich kenne diesen Drang nur zu gut.
Etwas sagen zu wollen.
Etwas retten zu wollen.
Aber der Weg führt durch das Zuviel.
Und endet nicht im Nichts.
Sondern in der Stille des GENUG.

Die verletzliche Seite des Helfens

Es tut weh, nichts tun zu dürfen.
Sich zurückzunehmen.
Nicht der Held zu sein in fremden Geschichten.
Wer hilft, ohne gefragt zu sein,
hilft manchmal nur sich selbst.
Wer sich selbst vergisst, kann besser hinhören.
Vielleicht ist es das größte Geschenk:
Nicht zu wissen, was das Richtige ist.
Und trotzdem zu bleiben.

Vom Teilen

Mit vollen Händen

Es gibt ein Geräusch, das man nicht hört.
Aber spürt.
Wenn eine Hand sich öffnet.
Ein Laut aus der Stille.
Ein sanftes Klirren des Herzens.

So beginnt das Teilen.
Nicht als Konzept.
Sondern als Geste.
Offen.
Wortlos.

Teilen ist keine Taktik.
Es ist ein Lebensvergnügen.
Ein Tanz der Dinge,
der nicht dem Haben dient,
sondern dem Wandern.

Was heute bei mir liegt,
kann morgen woanders leuchten.
Ein wenig Geld.
Ein Buch.
Ein Brocken Mut.
Die Welt will nicht gesammelt werden.
Sie will zirkulieren.

Aber erst das Haben macht das Geben möglich.
Aber nur das Geben macht das Haben sinnvoll.
Denn was nicht fließt,
fault.
Und was nicht weitergeht,
wird schwer.
Mit vollen Händen geben
heißt:
Nicht ausrechnen.
Nicht sieben.
Nicht abwägen.
Sondern einfach:
Schütten.

Teilen heißt auch:
Nicht prüfen.
Nicht bewerten.
Nicht durch die eigene Brille blicken.
Nicht denken:
Verdient er das?
Sondern spüren:
Braucht sie es?
Geben ohne Spiegelblick.
Ohne Erwartungsritual.
Ohne Hintertür.

Es ist ein Ganzgeben.
Ohne-Rücktrittsrecht.
Ein Jetzt-und-Hier-und-Herz.
Es braucht ein bisschen Mut.
Denn wer gibt,
setzt sich der Lücke aus.
Einer Leerstelle.
Dem Vielleicht-kommt-nichts-zurück.

Nach all diesen Worten,
nach all der Überlegung,
nach all dem Denken über das Teilen
steht sie da.
Wie aus einem Küchenkalender gefallen.
Die Wahrheit.
Und sie trifft.
Tiefer als gedacht.
Weil sie einfach ist.
Und darum wahr.

Geben ist seliger denn nehmen.

Haben wollen.

Vom Habenwollen – und dem Zuviel.

Ich besitze.
Besitze zu viel,
besitze zu gern,
besitze mich selbst kaum mehr inmitten dessen,
was ich besitze.

Regale, Schubladen, Ordner.
Stille Zeugen eines leisen Wahns.
Nichts davon schreit.
Aber alles spricht.
Oft alles auf einmal.

Ich sitze an meinem Schreibtisch – einer Art Gedankenhalde – und blicke auf Dinge, die mir gehören.
Oder habe ich längst ihnen gehört?
Was zuerst Besitz war, wird bald zum Besessenen.
Und ich: ein Kurator meines eigenen Alltagsmuseums.
Eintritt frei,
Ausgang unklar.

Die stille Invasion der Dinge

Sie kommen nicht auf einmal. Die Dinge.
Sie kriechen ins Leben, harmlos zunächst, wie kleine Ideen mit Preisschild.
Ein Stift. Eine Lampe. Eine Vase, die ich irgendwann irgendwo gesehen habe – und jetzt steht sie da.
Schön.
Bedeutend.
Und völlig überflüssig.

Der Messianismus des Messis, sagen andere.
Aber ich bin kein Messi. Ich bin höchstens ein Bedeutungsarchäologe.
Jeder Gegenstand hat eine Geschichte.
Und jede Geschichte ein Echo.
Nur: Die Echos türmen sich.
Sie reden durcheinander.
Sie fordern Aufmerksamkeit.
Raum.
Zeit.

Auf meinem Schreibtisch: ein Montblanc-Füller. Ein Meisterstück. Nein, drei.
Alle stillgelegt. Stillgelegt in einer winzigen Schublade eines kleinen Kästchens mit großer Bedeutung.
Ein Monument der Wunschzeit.
Ich wollte sie.
Damals.
Jetzt schreiben sie nicht mehr.
Oder ich nicht mit ihnen.

Vielleicht, denke ich, ist das Habenwollen ein Zukunftstier.
Es lebt nicht im Jetzt.
Es lebt im Davor – dem Moment, bevor etwas meins wird.
Und danach?
Wird es stumm.
Wird es schwer.
Wird es Staub.

Der Moment des Besitzens

Das Haben ist eine seltsame Geste.
Es ist keine Bewegung, sondern ein Zustand.
Etwas gehört mir.
Ich halte es.
Ich stelle es irgendwo hin.
Und dann?
Was passiert, wenn das Haben zum Sein wird?
Werde ich mehr durch das, was ich habe?
Nein.
Aber ich fühle mich oft weniger, wenn ich es loslassen soll.

„Unnötiger Ballast“, sagen Aufräumcoaches.
„Minimalismus ist die neue Spiritualität“, ruft das Netz.
Aber was ist unnötig, wenn alles eine Spur von mir trägt?
Wenn jede Kleinigkeit ein Splitter meines inneren Gewebes ist?

Der Mensch, ein Wesen mit Bindungspartikeln.
Ich kann mich nicht entbinden.
Die Dinge kleben.
Nicht durch Klebstoff, sondern durch Erinnerung.

Die Memo-Moleküle sind wirklich klebrig.
Sie lagern sich ab in Gegenständen,
vor Allem in Gerüchen,
auch in Kabeln.
Ja – selbst in den Kabeln.

Die Kabelkrone des Alltags

Manche sammeln Briefmarken.
Ich sammele Verbindungskabel.
Kabel zu Geräten, die ich nie mehr anschließe.
Kabel zu Geräten, die es nie gab.
Kabel zu Geräten, die ich noch erfinden müsste.

Sie leben in einer sehr großen Schachtel.
Ein Biotop der Vernetzung.
Manchmal ziehe ich ein Kabel hervor, wie ein Angler einen Fisch.
Und frage mich: „Wozu gehörst du?“
Es antwortet nicht.
Aber es bleibt.
Vielleicht braucht es mich.
Vielleicht ich es.
Oder wir haben uns nur noch nicht gefunden.

Ich nenne dieses Phänomen: 
Konnektomantik – die Magie der Verbindungen, die keine mehr sind, aber noch nicht aufgelöst wurden.

Das Zuviel als Innenwetter

Manche Tage riechen nach Zuviel.
Ich blicke auf mein Zimmer – mein Zeughaus der Zugehörigkeiten –
und denke: Ich muss aufräumen.

Aber ich weiß nicht, wohin mit dem, was ich bin.
Denn ich bin nicht getrennt von meinen Dingen.
Ich bin ein Hauch von ihnen.
Sie tragen meine Handschrift.
Mein Sehnen.
Mein Warten.

Vielleicht bin ich ein Dingseelenhorter.
Ich horte nicht Dinge.
Ich horte Seelenabdrücke.
Spuren.
Funken.
Gesten.
Wegwerfen wäre Exorzismus.

Die Utopie des Genug

Gibt es ein Genug?
Ich stelle mir vor, wie ich am Meer sitze, nichts bei mir außer einem kleinen Notizbuch.
Ein Stift.
Ein Sonnenhut.
Der Wind streicht durch meine Gedanken wie eine alte Lehrerin, die endlich verzeiht.

So wenig.
So genug.

Ich glaube nicht, dass es mir gelingt.
Aber ich will dahin.
In eine Welt, in der Weniger nicht Verlust bedeutet.
Sondern:
Luft.
Weite.
Freiheit.

Denn das Habenwollen ist laut.
Es redet mir in alles hinein.
Es sagt: „Noch dies. Noch jenes. Dann bist du komplett.“
Aber ich war nie so unvollständig wie in jenen Momenten des größten Besitzes.

Das Habenwollenherz  ist wie ein unstetes Tier.
Es kennt kein Zuhause.
Nur Verheißung.
Und Verzehr.

Ich will ihm einen Platz geben.
Ihm zuhören.
Aber ihm nicht mehr folgen.

Die stille Revolution des Lassens

Vielleicht beginnt alles mit einer kleinen Geste.
Ein Ding.
Ein Kabel.
Ein Stift.

Nicht loswerden.
Sondern freigeben.
Wieder ins Offene entlassen.
In den Kreislauf der Dinge.

Ich sehe meine etruskische Bronzefigur an.
Flohmarktfund. Wahrscheinlich römischer Touristenkitsch.
Aber sie schaut mich an, als wäre sie Teil eines alten Bundes.
Sie sagt nichts.
Aber sie wartet.

Vielleicht wartet sie darauf, dass ich mich verändere.
Dass ich ausräume, um einzuziehen.

In mein Leben.
In meine Zeit.
In mich selbst.

Der Weg führt durch das Zuviel.
Und endet nicht im Nichts.
Sondern in der Stille des GENUG.

The Grand Tour.

Torsten Gripp | The Grand Tour | 2025


Am 30. April soll es losgehen.
Ich will schauen.
An der Atlantikküste.
In Frankreich, Spanien und Portugal.
Wieder einmal.
Ich will den Wellen lauschen.
Fremden Menschen begegnen.


Ich will mich neu betrachten.
Mich gegen das Licht halten.
So wie Goethe in Italien, als er sich Johann Philipp Möller nannte.
Soll ich mir auch einen anderen Namen geben?
Nicht aus Eitelkeit.
Nur, um den Blick zu ändern?
Nein.

Ein Porträt vor Ruinen?
Warum nicht.
Ich mache ein Selfie.
Mit Smartphone und Augenringen.

Die Reise wird nicht perfekt sein.
Egal.
Ich will mittendrin sein. 
Wach. 
Und unterwegs.

Kokoro-Kurinuki

Aus der Werkstatt der Stille: ein Gefäß der Zwischenwelt.

Sie glänzt nicht.
Sie ruft nicht.
Sie ist.

Ein Zwischenwesen
aus Himmelston und Erdeseele.

Bereit für Tee.
Für Zeit.
Für das Jetztwerden.

Kein Zierrat.
Nur Wegspur.
Kein Anspruch.
Nur Klarheit.

Wer sie berührt,
verstummt.
Wer aus ihr trinkt,
findet Erinnerung.

Ein Schalenwesen.
Ein stilles Mehr.
So wenig.
So viel.

Und nun befindet sie sich in Österreich:

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Kokoro-Kurinuki

Eine Wanderschaft zwischen Himmelsschimmer und Höllenschlund.

Ein Höllenschlund tut sich auf wenigen Quadratzentimetern Becher auf. So klein und doch so furchteinflößend, als hätte der Herr persönlich ein Warnschild in die Werkstatt gestellt. Dieser Becher scheint – von außen betrachtet – ein ganz normaler, ja, harmloser, kleiner Becher zu sein. In seinem Inneren jedoch sieht es so aus, als würde die Glasur noch immer brodeln und kochen.

Der neue Besitzer möge ihn von mir aus „Feuerkelch“ nennen und ihn als sakrales Schreckstück in die Vitrine parken. Aus diesem Becher kann man nicht trinken. Mag das Äußere auch noch so elegant, glatt oder bieder daherkommen. In seinem Inneren kocht es dauerhaft und verschlingt jeden Blick, den man in ihn hineinwirft. Es ist, als sei die Glasur sei lebendig – ein flammendes Inferno, das hungrig nach unseren Gedanken schnappt.
Manch einer würde sich womöglich bekreuzigen, wenn er hineinspäht und dieses unheilvoll rote Blubbern sieht. Aber sind wir nicht alle ein wenig so? Außen harmlos, innen höllisch?

Der Glaube sagt uns: „Schau nicht weg, sondern biete dem Bösen die Stirn.“ Vielleicht ist dieser Becher also gar kein Höllenkrater, sondern eine Miniaturbühne für unsere Seelenkämpfe. Ein Schlückchen „Feuerwunder“ für die Augen, das uns mahnt, mit Staunen und Respekt durchs Leben zu schreiten.

Und wenn wir uns trauen, unseren Blick von ihm verschlingen zu lassen, dann spüren wir vielleicht, wie aus dem Schrecken ein Funke Hoffnung erwachsen kann.

Worte

Vom Blau des Himmels und anderen verschwundenen Wundern. Ein Mann, die Sprache und der Rest des Lebens.

Mein ganzes Leben lang habe ich nach den richtigen Worten gesucht. Am Anfang war das einfach. „Will haben!“ – das war der Zauberspruch, der Türen, Schränke und Süßigkeitendosen öffnete. Er war so effizient, dass ich mir wünschte, er würde für immer ausreichen. Tat er aber nicht. Die Erwachsenen bestanden auf komplizierteren Sätzen. „Darf ich bitte?“ wurde eingefordert, und wenn ich Pech hatte, folgte danach trotzdem ein „Nein“. Das Leben war ungerecht.

Als ich älter wurde, bemerkte ich, dass Worte eine seltsame Eigenart hatten: Sie konnten Türen öffnen, aber auch zuschlagen. Ich erinnere mich gut an das erste Mal, als mir ein Erwachsener sagte: „Nun sei mal still!“ Ich hatte gerade eine bahnbrechende Entdeckung gemacht – der Himmel war blau – und wollte diese Erkenntnis mit der Welt teilen. Statt Applaus gab es genervte Blicke.
Als Kind hatte ich keine Hemmungen. Ich plapperte drauflos, sprach Gedanken laut aus, die sich mir in den Kopf setzten. Warum war Wasser nass? Warum hatte der Opa so viele Falten? Und wieso durfte der Hund auf den Teppich pinkeln, ich aber nicht? Erwachsene hatten auf alles eine Antwort, wenn auch nicht immer eine zufriedenstellende. „Das ist eben so.“ Ein Satz, den ich hasste. Es klang wie ein Türzuschlagen im Kopf.

In der Schule ging es nicht nur darum, Worte zu finden, sondern auch die richtigen zu wählen. Dafür gab es Noten, die den Wert eines Satzes bestimmten. Der Lehrer war ein Wort-Währungsprüfer: „Subjekt, Prädikat, Objekt“ war die harte Währung, „Tuwort, Hauptwort“ dagegen nur Spielgeld. Ich nahm es hin, aber bis heute klingt „Tuwort“ in meinen Ohren lebendiger als „Verb“.

Dann kam die Pubertät, eine Zeit, in der Worte plötzlich eine andere Bedeutung bekamen. Schweigen wurde eine eigene Sprache. Ein Mädchen anzusehen, ohne etwas zu sagen, konnte mehr ausdrücken als tausend Worte. Leider galt das nicht für Schulaufsätze. Dort musste man schreiben. Möglichst klug und reflektiert. Ich begann, Worte zu horten, sie mir zurechtzulegen, sie gezielt einzusetzen. Das war anstrengend. In der Liebe hätte ich mir manchmal ein Wörterbuch gewünscht, eines mit klaren Anleitungen. „Sag jetzt das und sie wird dich küssen.“ So ein Buch hätte ich mir sofort gekauft.

Die erste Liebe brachte eine neue Krise. Worte versagten völlig. Ich stand da, stammelte, errötete – und wurde trotzdem geküsst. Danach war mein Denkzentrum überfordert. Die einzige Ausdrucksform, die mir blieb, war ein dämliches Grinsen. Und siehe da: Auch das wurde nicht abgelehnt. Ich durfte sogar ihren Busen streicheln – ein Ereignis von großer Bedeutung. So bedeutsam, dass alles andere verblasste und zu einem Nichts schrumpfte. Das Grinsen verstärkte sich so sehr, dass mein kleiner Bruder es für nötig hielt, mich bei jeder Gelegenheit mit „Verliebt, verlobt, verheiratet!“ zu verspotten. Der Junge hatte Talent zum Folterknecht.

Dann kam das Berufsleben. Ich wurde Polizist. Worte wurden jetzt amtlich. Ein Polizist spricht nicht einfach, er „weist hin“, „erlässt“ oder „verfügt“. Das war praktisch – acht Stunden am Tag. Danach war ich wieder ein gewöhnlicher Mensch, ohne Uniform und ohne Dienstausweis. Ich musste Worte finden für Traurige, für Verlorene, für meinen Sohn, der sowohl Lob als auch Tadel mehr, als nur verdiente. Ich musste Worte für meine Frau finden, um ihr zu zeigen, dass ich sie liebe – und nicht nur, wenn ich etwas von ihr wollte.
Worte wurden Werkzeuge. Ich lernte, sie gezielt einzusetzen, sie zu dosieren. Zu viel Lob macht unglaubwürdig, zu wenig Kritik gleichgültig. Ein falsches Wort konnte eine ganze Situation kippen. Ich wurde vorsichtig, wog meine Sätze ab. Manchmal wurde ich stumm, aus Angst, das Falsche zu sagen. Ein seltsamer Widerspruch: Ich war einmal ein Kind gewesen, das unaufhörlich sprach, und nun war ich ein Mann, der manchmal schwieg, weil er nicht wusste, wie er etwas ausdrücken sollte.

Vor allen Dingen aber, lernte ich zuzuhören. Hörte mehr die Worte anderer. Hören ohne zu Bewerten oder direkt zu handeln, eine schwierige Kunst.

Für mich selbst fand ich lange keine Worte. Für mein Glück erst recht nicht. Liebe? Die erklärten Rilke und Goethe so viel besser als ich. Ich las sie, nickte anerkennend und blieb trotzdem sprachlos. Manchmal fragte ich mich, ob das Leben eine Art Grammatikprüfung war, eine endlose Suche nach der perfekten Formulierung. Doch dann dachte ich an den Himmel. War der nicht einfach nur blau? Brauchte er eine Erklärung?

Irgendwann fand ich meine Worte wieder. Oder besser gesagt: Ich ließ sie zu. Es begann mit der Kunst. Mit der Fotografie entdeckte ich, dass Bilder ihre eigene Sprache haben. Ein Foto kann erzählen, ohne zu reden. Es zeigt Stimmungen, Gedanken, manchmal sogar Erinnerungen. Dann kam die Keramik. Ich formte Becher, Schalen, einfache Dinge – aber in ihnen steckte etwas von mir. Sie waren meine Worte, meine unausgesprochenen Gedanken. Ich musste nichts erklären, nichts rechtfertigen. Ein Becher ist ein Becher. Und doch kann er eine ganze Geschichte erzählen.

Heute weiß ich eines: Die richtigen Worte gibt es nicht. Es gibt nur die, die gerade passen. Manchmal sind sie laut, manchmal leise. Manchmal brauchen wir keine. Manchmal reicht ein Blick. Oder ein Becher aus Ton.

Aber eines habe ich mir vorgenommen: Ich werde wieder sagen, dass der Himmel blau ist. Und wenn jemand genervt die Augen rollt, werde ich lächeln und denken: „Wenigstens sehe ich ihn noch.“