Blumenwiese, unscharf

Farbe, bevor sie etwas wird.

Torsten Gripp | Im Garten | 2025

Dieses Foto ist eine Zumutung.

Was wir sehen? Blumen. Was wir nicht sehen? Blumen.
Das Foto entzieht sich jeder klassischen Wahrnehmung und liefert stattdessen das, was ich als „Gefühl im Vorbeigehen“ bezeichne. Es ist, als hätte die Kamera einen Tagtraum gehabt. Oder sich geweigert, die Blumen scharf abzubilden.
Was bleibt, ist, die Farbe als erstes Wahrnehmungselement zu begreifen, als Primärgefühl vor dem Verstand.
Hier konkurrieren Blau, Grün und Gelb in einem visuellen Dreikampf ohne klare Sieger. Der Himmel ist da, aber nicht ganz. Die Pflanzen ebenfalls. Eingefangen ist keine Landschaft, sondern ein Schwebezustand. Eine fotografische Version dessen, was zwischen zwei Gedanken passiert bevor das Gehirn beschließt, etwas zu erkennen. Man kann das als „Unscharfheit“ bezeichnen. Oder besser: als präzise Unentschiedenheit.

Aber: Was aussieht wie ein digital verfremdetes Farbfeld ist in Wahrheit: die Wirklichkeit.

Erzeugt wurde sie durch die Kombination eines sechzig Jahre alten Objektivs mit einer hochauflösenden Digitalkamera. Ein analoges Auge trifft auf digitale Präzision und zeigt: Das Sehen ist formbar.
Die Linse verzeichnet. Sie produziert ein übersteuertes Bokeh. Sie verzichtet auf jede „Verbesserung“, die moderne Kameras routiniert vornehmen. Und genau dadurch entsteht ein Paradoxon:

Die Fotografie zeigt exakt das, was war, aber auf eine Weise, wie wir es längst verlernt haben zu sehen.

In dieser Kombination wird das Objektiv zum Erkenntnisinstrument. Es entlarvt die Idee von Schärfe als Konvention. Und zeigt, wie sehr unser Blick durch Technologie normiert wurde. Blumenwiese, unscharf ist somit mehr als eine ästhetische Irritation. Es ist ein dokumentiertes Innehalten. Eine Aufzeichnung des Moments zwischen Reiz und Bedeutung. Ein Sehen, das nicht behauptet, sondern fragt.

Die Farbe zwischen zwei Gedanken.

Altrot an einem Dienstag.

Ich behaupte etwas, das wahrscheinlich so noch nicht gedacht wurde. Nicht von der Wissenschaft. Nicht von der Kunstgeschichte. Aber von mir:

Die Seele kann Farben sehen.

Sie liest sie nicht wie Worte. Sondern wie Melodien. Jede Farbe hat eine Schwingung. Und die Seele ist ein Resonanzkörper. Wenn wir sagen: „Das berührt mich“, meinen wir oft etwas Farbiges. Ein Kleid im Wind. Ein Sonnenfleck auf dem Küchenboden. Ein altes Foto, das gelblich verblasst. Und genau darin seine Wahrheit trägt.

Die Seele filtert keine Konturen.
Sie fragt nicht nach der exakten Kante zwischen Blütenblatt und Hintergrund. Sie will wissen:
Was schwingt da?
Was klingt da?

Ich fotografiere gern unscharf. Blumen, die zu tanzen scheinen. Gesichter, die sich auflösen. Landschaften, die nur noch Andeutungen sind. Wie Erinnerungen aus einem früheren Leben.

Torsten Gripp | Im Garten | 2025

Warum?

Weil die Wahrheit nicht in der Schärfe liegt. Ein scharfes Bild behauptet:
So ist es.
Ein unscharfes Bild fragt:
Was siehst du?
Das ist der Unterschied zwischen Abbild und Angebot. Und ich will keine Abbilder machen. Ich will Möglichkeiten eröffnen.

Farbe irrt sich nie

Eine Blume bleibt eine Blume, auch wenn du ihre Ränder verlaufen lässt. Warum? Weil ihre Farbe bleibt.
Du kannst eine Mohnblume zerdrücken, sie verwischen, sie auflösen in Pixel und Licht, und dennoch sagt die Farbe:
Ich bin da.
Rot bleibt rot.
Es wird vielleicht schwächer.
Zarter.
Aber es bleibt.

Konturen hingegen sind wie Meinungen. Flüchtig. Verhandelbar. Farben sind eher wie Stimmungen. Sie betreten den Raum, setzen sich in deine Aura, und plötzlich denkst du an deine Kindheit. Oder an ein Stück Käsekuchen.

Die Welt wäre eine andere

Wenn wir uns in einem Raum wohlfühlen, ist es selten wegen der Möbel. Meist wegen der Farbe. Oder ihrer Abwesenheit. Wenn wir anfangen würden, die Welt nicht in Formen, sondern in Farben zu sehen – würden wir vielleicht milder werden.
Weniger Argumente.
Mehr Abstufungen.
Weniger Kanten.
Mehr Übergänge.

Was wäre das für eine Gesellschaft, die Menschen nicht nach Linien einteilt, sondern nach Leuchtkraft? Ein Kind wäre nicht „unordentlich“, sondern „ein bisschen zitronengelb“. Ein alter Mann nicht „dement“, sondern „blasslila mit Lichtpunkten“. Die Liebe? Nie wieder rot. Sondern: wechselhaft. Ein Farbklang aus Türkis, Rost, Pflaume und ab und zu ein Schuss Silber.

Wissenschaft, schau her

Die Naturwissenschaft wird jetzt unruhig. Farben sind elektromagnetische Wellen, sagt sie. Photonen, sagt sie. Rezeptoren, Zapfen, Stäbchen, Sehnerv.

Ich nicke.
Und lächle.

Aber was ist mit dem Innenbild? Dem, was wir sehen, wenn wir die Augen schließen? Warum können Blinde Farben fühlen? Warum spüren wir ein Licht, auch wenn keines da ist? Vielleicht, weil Farben nicht nur Lichtphänomene sind. Sondern seelische Zustände.

Die Gripp’sche Farblehre

Ich schlage eine neue Farblehre vor. Keine Skala, keine Skizzen. Sondern: Gefühlsschattierungen. Ein Vokabular für die innere Wahrnehmung.

  • Zustimmungsblau: ein Ton, der „Ja“ haucht
  • Stärkeblau: Ein klares, tiefes Saphirblau, das Halt gibt. Es steht für die innere Gewissheit und Widerstandsfähigkeit, die sich einstellt, wenn man weiß, dass man Herausforderungen meistern kann.
  • Seelenblau: Ein atmendes Blau-Grün. Wie ein Wasser, das atmet. Wie Mooslicht unter Gedanken.
  • Einsichtsgrün: Ein klares, tiefes Blattgrün, durch das die Sonne fällt. Es ist die Farbe, die sich einstellt, wenn plötzlich ein komplexer Zusammenhang sichtbar wird, wie ein frisch geknüpfter Faden im Wirrwarr der Gedanken. Es ist die Klarheit nach dem Grübeln.
    Heilungsgrün: Ein sanftes, klares Salbeigrün, das sich ausbreitet wie ein warmer Balsam. Es ist die Farbe der inneren Regeneration, die sich einstellt, wenn Wunden zu heilen beginnen und ein Gefühl der Erneuerung entsteht.
  • Seelengartengrün: Ein beruhigendes, sattes Waldgrün, das Tiefe und Weite vereint. Es ist der friedvolle Ort im Inneren, wo Gedanken sich entfalten und die Seele atmen kann, ein sicherer Hafen der inneren Natur.
  • Trotzgelb: strahlend mit Widerhaken
  • Heiterkeitsgelb: Ein unbeschwertes, sanftes Sonnengelb, das den Raum erfüllt. Es ist die leichte, unaufdringliche Fröhlichkeit, die den Tag erhellt, ohne übermütig zu sein.
  • Leichtigkeitsgelb: Ein schwebendes, fast gewichtsloses Zitronengelb, das sich wie ein Lächeln ausbreitet. Diese Farbe erscheint, wenn eine Last abfällt, wenn eine Sorge sich auflöst und ein Gefühl von unbeschwerter Freiheit den Raum zwischen den Gedanken erfüllt.
  • Wunderweiß: Ein strahlendes, fast blendendes Weiß mit einem Hauch von Gold. Diese Farbe manifestiert sich, wenn das Unmögliche plötzlich denkbar wird, ein kleiner Moment des Staunens, der die Grenzen der Vernunft für einen Augenblick aufhebt.
  • Freudenschimmer: Ein irisierendes, leicht rosafarbenes Weiß, das kurz aufblitzt. Dieser Farbton ist das flüchtige Glück, das sich unvermittelt zeigt, ein leichter Glanz am Rande der Wahrnehmung.
  • Anfangswindweiß: Ein fast transparentes Weiß, durchzogen von einem kaum wahrnehmbaren, frischen Luftzug. Es symbolisiert den leeren Raum unmittelbar vor dem ersten Gedanken, dem ersten Impuls, der erste Atemzug einer neuen Idee, die noch keine Form angenommen hat.
  • Altrot: wie ein verwischter Kuss auf einem alten Foto
    Ankerrot: Ein erdiges, stabiles Terrakottarot, das festen Halt gibt. Diese Farbe steht für die innere Stabilität und das Gefühl der Erdung, wenn man sich sicher und zentriert fühlt, auch in bewegten Zeiten.
  • Nachklangpurpur: Ein dunkles, sattes Purpur, das langsam verlischt wie die letzte Note eines tiefen Akkords. Diese Farbe repräsentiert das Echo eines starken Gefühls oder eines bedeutenden Erlebnisses, das noch lange nachwirkt, obwohl der Höhepunkt bereits vergangen ist.
  • Herzenswärmeorange: Ein mildes, goldenes Orange, das sanft vibriert. Diese Farbe umhüllt wie eine unsichtbare Decke, spendet Geborgenheit und das Gefühl, verstanden und angenommen zu sein.
  • Dämmerungsweiß: fast nichts – und gerade deshalb alles
  • Sehnsuchtsgrau: zwischen Nebel und Erinnerung
  • Zweifelsgrau: Ein changierendes Grau-Violett. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Nicht Glaube, nicht Gewissheit. Sondern der Moment dazwischen.
  • Trostgrau: Ein weiches, umarmendes Taubengrau, das sanft umschließt. Es ist die Farbe, die sich um ein schmerzhaftes Gefühl legt und es nicht heilt, aber beruhigt und ein Gefühl der stillen Akzeptanz schenkt.
  • Wartegrau: Ein mattes, unbewegtes Betongrau, das die Zeit stillstehen lässt. Diese Farbe fängt den Zustand des Ausharrens ein, wenn nichts geschieht und man doch innerlich angespannt auf etwas wartet, das noch nicht sichtbar ist. Es ist die Stille vor dem Ereignis.
  • Zwiegesprächstürkis: Ein changierendes Türkis, das mal ins Blau, mal ins Grün kippt, je nach Perspektive. Es ist die Farbe des inneren Dialogs, wenn verschiedene Teile des Selbst miteinander verhandeln, argumentieren oder sich annähern, ohne dass ein klares Ergebnis feststeht.
  • Leitsternviolett: Ein klares, leuchtendes Violett, das wie ein ferner Punkt im Dunkeln schimmert. Diese Farbe symbolisiert die innere Führung und den Glauben an einen Weg, auch wenn dieser noch nicht vollständig sichtbar ist. Sie gibt den Mut, dem Unbekannten zu vertrauen.
  • Erkenntnisgold: Ein Gold-Gelb, das nicht aus der Sonne kommt, sondern von innen.
  • Sanftmutgold: Ein warmes, leuchtendes Altgold, das von innen heraus strahlt. Diese Farbe repräsentiert die stille, aber immense Kraft der Güte und des Mitgefühls – zuerst mit sich selbst, dann mit anderen. Sie ist der Beweis, dass wahre Stärke oft in der Sanftheit liegt.
  • Göttliches-Funken-Gold: Ein flüssiges, warmes Gold, das von innen heraus pulsiert. Diese Farbe ist nicht nur Glanz, sondern die pure Manifestation des göttlichen Funkens in jedem Wesen. Sie verleiht die Zauberkraft, das eigene Potenzial zu erkennen und zu entfalten, Wünsche in die Realität zu ziehen und das Leben mit der eigenen inneren Leuchtkraft zu verändern. Es ist das Gold der Schöpferkraft.
  • Lachfaltenbeige: Ein warmes, weiches Sandbeige, das Geschichten erzählt. Diese Farbe fängt die Gemütlichkeit und Weisheit eines friedvollen Moments ein, erfüllt von stiller Freude und Verbundenheit.
  • Brückenrosa: Es erscheint, wenn Verständnis entsteht, ohne Worte. Wenn sich Gegensätze nicht mehr fremd sind, sondern nur verschieden.
  • Heimkehrbraun: Ein warmes, erdiges Kastanienbraun, das Geborgenheit ausstrahlt. Es ist die Farbe des inneren Ankommens, wenn man nach einer Reise der Gedanken wieder bei sich selbst landet, in einem Gefühl der Vertrautheit und des Friedens.
  • Schutzschwarz: Ein solides, absorbierendes Tiefschwarz, das wie ein Schild wirkt. Es ist die Farbe des inneren Schutzes, der sich um die Seele legt, um sie vor Überforderung oder negativen Einflüssen zu bewahren, ein Mantel der Geborgenheit.
  • Seelenklarheitssilber: Ein klares, spiegelndes Silber, das die Wahrheit enthüllt und doch sanft ist. Diese Farbe ist der Schleierlüfter, der die Zauberkraft verleiht, die wahre Natur von Dingen und Gefühlen zu erkennen, Illusionen zu durchdringen und die eigene innere Weisheit zu hören. Es schenkt die Gabe der Intuition und der reinen Erkenntnis, die wie Mondlicht den Weg weist.
  • Weisheits-Lapislazuli: Ein tiefes, sternenübersätes Ultramarinblau, das die Geheimnisse des Universums in sich trägt. Diese Farbe ist der Schlüssel zur alten Weisheit und zur Zauberkraft des Verstehens. Sie verbindet uns mit dem kollektiven Wissen, schenkt die Gabe der tiefen Einsicht und die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen. Es ist das Blau des Wissens, das die Seele mit unendlicher Tiefe bereichert.

So würde man nicht sagen: „Ich bin traurig“, sondern: „Heute bin ich ein wenig altrot.“ Nicht: „Ich bin aufgeregt“, sondern: „Es ist wieder dieses Trotzgelb in mir.“
Friederike ist natürlich anderer Meinung. „Farben sind kein Ernstfall“, sagt sie. Sie sitzt wie immer auf dem Stuhl ohne Beine. Imaginär. Unantastbar.

„Also?“, fragt sie.
„Fertig mit dem Farbenaufschreiben?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
Sie grinst.
Ein bisschen wie Aprikose im Abendlicht.
Ich sage besser mal nichts.
Sie weiß es ja längst.
Dann legt sie den Kopf schief.
„Weißt du noch, damals, als du diese Blume fotografieren wolltest?
Die im Schatten zwischen zwei Steinen, hinten im Garten?“
Ich nicke. „Sie war wunderschön.“
„War sie das? Oder war’s nur der Moment drumherum?“
Ich denke kurz nach. Und plötzlich weiß ich es nicht mehr.
Sie steht auf.
Läuft ein paar Schritte barfuß durchs Unsichtbare.

Ich schaue ihr nach.
Sie ist jetzt kaum noch zu sehen.
Nur noch ein Umriss in sanftem Licht.
Wie Morgendunst über grünem Tee.
Dann ist sie kurz rosa.
Oder pfirsich.
Vielleicht auch nur ein Reflex.
Dann verschwindet sie.
Ein leiser Ton bleibt.
Vielleicht ist es ein inneres Türkis.
Oder ein Abschied in Dämmerungsweiß.

Freundschaft

Der Freund.

Er hat mein Licht nie gesucht, der Mann, der sich mein Freund nannte –
er hat nur meinen Schatten gedehnt.

Er kam, als ich kaum zu spüren war, aber er ging,
als ich zu glühen begann.

Er konnte mich ertragen, solange ich still war, aber nicht,
als ich zu sprechen wagte. Mit Flamme, mit Wahrheit, mit Stimme.

Und doch ist dieser Irrtum kein Verlust. Er ist ein Kompass.
Ein Brennpunkt, an dem ich gesehen habe:

Was in mir bleibt, ist größer als das, was geht.

Brötchen. Sonne. Ich.

Alle schlafen noch.
Das Haus atmet langsam, tief.
Nur ich bin wach.
Nicht weil ich muss,
weil ich will.

Die I-Watch sagt, ich hätte gut geschlafen.
Tief. Fest. Durchgehend.
Und: sie hat recht.
Mein Körper fühlt sich nicht nach Widerstand an, sondern nach Einverstandensein.
Mit mir. Mit der Welt. Mit diesem Morgen.

Mir ist nach Brötchen.
Aber nicht irgendein Gebäck vom Discounter.
Ich meine diese knusprigen Roggenbrötchen mit der fast schwarzen Kruste.
Die, die man nur bekommt, wenn man früh da ist.
Beim einen Bäcker, der noch backt wie früher.

Draußen scheint schon die Sonne.
Der Garten ist längst wach.
Die Amseln haben die Nacht zersungen.
Die Bienen machen bald Mittag.
Und ich stehe da.
In diesem flüchtigen Übergang zwischen Schlaf und Tag.

Ich werfe mir Jeans und T-Shirt über.
Kein Blick in den Spiegel.
Nur ein Schöpfen Wasser ins Gesicht,
ein Gruß an den Tag.

Die Garage knarzt, als ich das Tor öffne.
Da steht es.
Mein Fahrrad.
Ich fahre los.
Die Straße ist leer.
Noch nicht viel Verkehr, kein Hupen, kein Getriebensein.
Nur das leise Surren der Reifen auf dem Asphalt.
Und die Sonne,
die langsam über meine Schultern streicht
wie eine alte Freundin.

Mir ist warm.
Nicht heiß.
Warm.
Wie ein Gefühl, das im Inneren beginnt und sich ausbreitet,
bis in die Fingerspitzen.

Ich trete in die Pedale.
Acht Minuten hin.
Acht zurück.
Eine gute Viertelstunde Bewegung.
Mehr braucht es nicht.

Ich sehe die Hecken blühen.
Ein Hund schaut mich an.
Ein alter Mann fegt vor seinem Haus.
Ich erreiche die Bäckerei.
Die Tür steht offen.
Ein Glockenton.
Ein Lächeln hinter der Theke.
„Die Roggenbrötchen sind noch warm.“

Ich nehme vier.
Und einen kleinen Apfelkuchen,
für später.

Ich fahre zurück.
Der Weg ist derselbe,
aber er fühlt sich anders an.
Etwas in mir ist leichter geworden.
Nicht, weil ich etwas erledigt habe.
Sondern weil ich etwas erlebt habe.

Zuhause angekommen, stelle ich Wasser auf.
Kaffee mahlen,
Eier ins kochende Wasser.
Ein leiser Rhythmus entsteht.
Routine, aber keine Gewohnheit.
Das Radio spielt leichte Musik.
Nicht aufdringlich,
sondern wie eine zweite Stimme im Raum.
Ich decke den Tisch.
Und da sitze ich.
Mit Brötchen, Ei, Kaffee.
Und ich weiß:
Das hier ist Glück.

Nicht laut.
Nicht spektakulär.
Kein Feuerwerk.

Vielleicht ist Glück immer ein wenig unscheinbar.
Vielleicht verpasst man es deshalb so oft.
Weil man auf das Große wartet.
Das Entscheidende.
Das Lebensverändernde.

Aber.

Glück braucht keinen Anlass.
Nur ein bisschen Jetzt.

Und
ein Fahrrad.
Und Brötchen.

Die Dose

Sie steht da.
Ein kleiner Kasten aus dunklem Ton, schief, kantig.
Wie ein gefundenes Fragment aus einer anderen Zeit.
Kurinuki.
Also ausgehöhlt.
Nicht gebaut, nicht gedreht, sondern befreit.

Man nimmt sie in die Hand, und sie hat Gewicht.
Als wäre etwas darin, das mehr wiegt als es scheint.
Der Deckel liegt nur lose auf.
Innen dann:
ein Leuchten.

Keine Technik, kein Strom.
Nur das Licht, das aus den kleinen Steinen fällt.

Bernstein.
Warm, goldfarben, fast durchsichtig.
Wie erstarrte Sonne.
Er trägt die Kraft von Jahrmillionen in sich.
Uraltes Baumharz, in sich ruhend.
Er wärmt die Haut. Und das Herz.
Er zieht das Trübe aus dem Blick.
Ein Stein gegen die Schwermut.
Ein Erinnerer an das Licht.

Daneben: Lava.
Dunkel, porös, fast scharfkantig.
Sie ist das Gegenteil.
Feuer, das erkaltet ist.
Sie trägt das Aufbrechen in sich, das Erschüttern, aber auch die Wandlung.
Wer Lava trägt, hat die Kraft, etwas zu durchleben.
Ohne zu verbrennen.
Ein Stein der Erdung, wenn alles ins Schwanken gerät.

Sugilith liegt da, fast unauffällig.
Lila, manchmal schwarz durchzogen.
Ein stiller Stein.
Er schützt, ohne zu schreien.
Er sammelt.
Er trägt die Traurigkeit anderer mit – wie ein Freund, der schweigend neben einem sitzt.
Wer ihn bei sich trägt, wird weicher.
Durchlässiger für das, was zählt.
Unempfindlich für das, was lärmend vorbeirauscht.

Lapislazuli.
Königsblau.
Mit kleinen goldenen Adern, wie eingeschlossene Sternschnuppen.
Ein Stein für klare Gedanken.
Für innere Führung.
Für die Stimme, die man fast vergessen hatte.
Er öffnet Räume.
Nicht nach außen – nach innen.

Dazwischen: Rote Koralle.
Lebendig, fast trotzig.
Sie wirkt, als hätte sie keine Angst vor irgendwas.
Ein Stein gegen Mattigkeit.
Ein Talisman für das Leben selbst.
Sie macht warm, wenn alles kalt erscheint.

Und dann Sandelholz.
Nicht leuchtend, nicht bunt – aber duftend.
Sanft, harzig, beruhigend.
Wie eine Erinnerung an etwas, das man nicht benennen kann.
Ein Gebet in Form von Perlen.
Ein kleiner Trost.
Ein Halten.

All diese Steine liegen in der Dose wie Worte in einem alten Gedichtband.
Die Dose ist ein Resonanzkörper.
Mehr noch: ein Gedächtnis.
Sie enthält nicht nur Schmuck.
Sie enthält Schwingung.

Wer sie öffnet, öffnet sich selbst.
Denn die Steine verändern sich.
Nicht sichtbar.
Aber fühlbar.
Je nach dem, wer sie trägt, wie es ihm geht, was gerade fehlt.
Sie verstärken.
Sie lindern.
Sie erinnern.

Manche wirken beruhigend.
Andere wecken.
Einige helfen beim Loslassen.
Andere beim Bleiben.

Und nie ist ihre Wirkung gleich.
Wie das Meer nicht jeden Tag dieselbe Farbe hat.

Die Kurinuki-Dose bewahrt das alles.
Sie ist nicht nur ein Gefäß.
Sie ist Mitwisserin.
Sie spürt, was mit hineingelegt wurde.

Ein geerdetes Ja.
Ein leises Weiter.

Fratzophonie

Manchmal findet man etwas, das eigentlich niemand mehr sucht.

Drei Köpfe.
Nicht aus Porzellan.
Nicht aus Bronze.
Sondern aus Meerschaum.
Zerbrochen, angespült.
St. Malo. Ebbe. Ein grauer Tag.

Einst gehörten sie zu Pfeifen.
Matrosen- oder Piratenhände hielten sie.
Sie sahen Sturm, Schnaps und Lieder.
Dann der Sturz. Der Bruch. Und das Vergessen.

Ich habe sie aufgehoben.
Nicht repariert.
Nicht poliert.
Nur neu zusammengesetzt.
In eine Schale aus dunklem Ton.
Handgehöhlt, rau, eigen.
Dreibeinig. Wie ein Wesen mit Stand.

Und so sind sie nun beieinander.
Köpfe voller Geschichten.
Ein bisschen schräg.
Ein bisschen schön.
Ein bisschen wie wir.

Dieses Ensemble ist kein Deko-Objekt.
Es ist ein Gespräch.
Ein Nachklang.
Ein kleines Denkmal für das,
was schon fast verschwunden war –
und nun doch bleibt.

Wer es bei sich aufnimmt,
nimmt drei Leben auf.
Und eine Schale,
die leise etwas erzählt.

Kunst beginnt dort,
wo der Nutzen verstummt.

Bokeh

Die Linse träumt.
Ein Garten im Märchenlicht.

Heute Morgen war das Licht wunderschön.
Nicht das grelle Licht der Mittagsstunden, das alles flach macht, sondern jenes leise, noch tastende Licht. Die Sonne war noch nicht ganz wach, aber schon auf dem Weg zur Arbeit.
Ich stand im Garten. Barfuß im nassen Gras. Die Kamera in der Hand. Ein altes Modell. Verlässlich. Kein Autofokus, der besser wusste, wohin ich sehen sollte. Nur ich und das alte Minolta-Objektiv aus den Siebzigern. Ein Stück Geschichte in meinen Händen. Metall. Glas. Und diese sonderbare Ehrlichkeit der Unschärfe. Wenn ich durch dieses Objektiv schaue, sehe ich anders. Weniger richtig. Dafür mehr wahr.

Die alte Technik verlangt Geduld. Alles muss von Hand geschehen. Die Schärfe ist eher eine Ahnung. Die Blende ein Versuch. Das Ergebnis? Unvorhersehbar. Und gerade deshalb: ein Geschenk. Ich liebe diese Ungenauigkeiten. Diese Farbsäume, die wie Säume von Märchenkleidern am Bildrand tanzen. Das Licht, das sich nicht an die Regeln der Physik hält. Und dann dieses Bokeh. Weich, wirbelnd, träumend. Kreise im Hintergrund, als hätte jemand Seifenblasen in den Raum gezeichnet. Früher hätte ich gesagt: ein Fehler. Heute sehe ich darin Landschaften. Innere. Verschobene. Verzauberte.

Ich nenne das Objektiv mein Märchenauge.

Es sieht nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie sich anfühlt. Wie sie träumt, wenn keiner hinschaut. Vielleicht hat es mit dem Alter zu tun, mit der Erfahrung in der Linse, mit dem Staub der Jahrzehnte. Vielleicht aber auch mit Friederike. Denn eines ist sicher: Ich fotografiere das nicht allein. Wenn ich auslöse, geschieht etwas. Nicht technisch. Nicht kontrolliert. Sondern poetisch. Ich halte nur die Kamera in die Sonne. Aber irgendetwas – oder jemand – übernimmt dann.

Friederike, glaube ich.

Sie ist oft bei mir im Garten. Sie sagt nie etwas. Und doch verändert sich alles, wenn sie auftaucht. Die Farben öffnen sich. Das Licht wird weich wie ein Seufzer. Ein zarter Hauch legt sich über die Dinge, wie Puderzucker über ein zu altes Märchenbuch. Vielleicht ist sie ein Engel. Vielleicht eine Erinnerung. Oder die leise Stimme der Phantasie.

Die Fotos tragen ihren Atem.

Es sind mehr als Bilder. Es sind Märchenorte. Die Blume darin – halb Licht, halb Schleier. Ihre Konturen lösen sich auf, als wüsste sie, dass es auf das Festhalten nicht ankommt. Es geht ums Staunen. Um das sich Einlassen. Um das kurze, flüchtige Jetzt. Das Bokee ist wild. Ein wogender Hintergrund aus Lichtpunkten und Formen, die sich nicht festlegen lassen. Wie Gedanken im Halbschlaf. Wie Träume, die gerade erst beginnen, sich zu erzählen. Man könnte sagen: unklar. Ich sage: frei.

Das alte Objektiv hat keine Scheu vor Fehlern. Es versucht nicht, perfekt zu sein. Es zeigt die Dinge, wie sie leuchten wollen – nicht, wie sie müssen. Es lässt Platz. Für das Wunder. Für den Zufall. Für das Spiel.

Das Eichhörnchen sitzt am Vogelfutter. Selbstvergessen. Dreist. Ein bisschen frech. Aber auch schön. Ganz bei sich. Es lässt sich nicht stören. Nicht mal von mir. Nur die Amsel ist nervös. Sie hat das Wasserbecken sonst für sich allein. Heute dreht sie ab. Wartet. Vielleicht hat sie Angst. Vielleicht ist das auch einfach ihre Art, dem Tag zu begegnen. Mit Vorsicht.

Friederike steht irgendwo zwischen den Zweigen. Vielleicht auch auf dem Zaun. Oder im Lichtfleck auf dem Kiesweg. Man sieht sie nicht. Aber ich spüre: Sie lächelt. „Ein schöner Morgen“, sagt sie. Nicht laut. Eher wie ein Gedanke, der mir zufliegt. Ich lächle zurück. Und nicke.

Was ist Schönheit?
Ich weiß es nicht genau. Aber sie hat viel mit Licht zu tun. Und mit Verletzlichkeit. Das Objektiv ist kein Werkzeug. Es ist ein Mitspieler. Es folgt nicht. Es führt. Es träumt. Wenn ich mit ihm fotografiere, verliere ich ein bisschen die Kontrolle und finde dafür den Zauber. Ein Bokeh ist kein Fehler. Es ist ein Flirren. Eine Ahnung. Ein Fenster nach innen. Vielleicht ist es das, was mich so erschüttert, wenn ich die fertigen Bilder sehe. Ich erkenne nicht, was ich fotografiert habe – ich erkenne, wie ich gefühlt habe. Die Kamera ist nur der Schlüssel. Was sich öffnet, ist etwas anderes.

Ein Gruß aus dem Unsichtbaren.

Seelenarchitektur

Vom Klang der Freiheit, zwischen Sinntüren, Zweifelssofa und Lauschfenster.

In meinem Inneren leben viele Leute. Kleine Gemeinschaften, Nachbarschaften, Gegenspieler. Mal laut, mal leise. Mal traurig, mal versponnen vor Glück. Sie wohnen dort, teilen sich die wenigen Räume. Einer denkt in Kurven. Eine andere malt Gedanken an die Wände. Einer ruft immer dazwischen. Und einer schweigt. Jeder dieser inneren Menschen träumt anders. Will woanders hin. Hat andere Farben im Blick. Andere Sehnsucht im Gepäck. Manche haben Namen. Andere nicht. Aber alle wollen gesehen werden. Angenommen.

„Wenn ich könnte, ich wäre Innenarchitektin“, sagt Friederike, pustet eine Haarlocke aus ihrem Gesicht und schiebt eine Gedankenmöbelidee in den Raum. „Ohne alles neu zu kaufen. Aber ich würde gelegentlich die alten Möbel umstellen. Ein Licht anders setzen. Einen Blickwinkel drehen. Vielleicht sogar ein Seelenfenster öffnen.“
Ich sehe sie vor mir, wie sie durch meine Zimmer geht. Leichtfüßig. Ohne Urteil. Hier ein Rückspiegelbild zurechtrücken. Dort ein Dankseufzer auf die Fensterbank. „Und was ist mit dem Sofa deiner Zweifel?“ fragt sie. „Kommt das wieder ans Fenster oder darf das mal in den Keller?“

Dann zieht Friederike den Vorhang beiseite. Sie flüstert: „Du brauchst Raum.“

Und sortiert leise.
Räumt auf.
Ohne weiter zu fragen.
Stellt die Hoffnung an einen besseren Platz.
Lüftet das Zweifelssofa.

Zwischendurch lachen wir über ihre inneren Wohnungspläne. Und manchmal ist es auch zum Heulen. Denn an den Außenstellen, den Fenstern, den Türen, den offenen Poren, sitzt die Gefahr. Zu viel Lärm. Zu viele Stimmen, die gar nicht hier wohnen. Die sagen, wie man zu sein hat. Wie Erfolg klingt. Was man jetzt fühlen sollte. Es ist wie ein Durchzug. Und wenn die Fenster zu lange offen bleiben, zieht es durchs ganze Haus. Dann wird das leise innere Licht zu einem schwachen Schimmer. Dann vergessen die inneren Mitbewohner ihre eigenen Stimmen. Oder reden nur noch nach, was sie draußen gehört haben.

Der heilige Bernhard von Clairvaux schrieb: „Wer sich selbst besser erkennen will, der gehe nicht nach draußen, sondern kehre in sich selbst zurück. Denn der innere Mensch trägt eine Tiefe in sich, in der Gott wohnt.“
Ich habe diesen Satz gelegentlich gehört, aber erst spät verstanden. Es geht nicht ums Abschließen. Nicht ums Abkapseln. Sondern ums Rückspüren. Ums Wiederfinden des eigenen Klangs. Denn wer innen keinen Raum hat, wird außen heimatlos.

Friederike sagt: „Du bist kein leeres Gefäß. Du bist ein bewohntes Wunder. Nur manchmal brauchst du eine stille Hand, die dir hilft, den Vorhang zu lüften. Damit du dich wieder erinnerst.“

Ich erinnere mich an einen Becher, den ich mal gemacht habe. Nicht ganz rund, nicht ganz gerade. Ein bisschen wie ein Ohr. Als würde er lauschen. Als wäre er gemacht für das, was innen klingt. Und doch: auch außen bereit, etwas zu empfangen. Vielleicht ist das das Bild der Freiheit, ein Lauschen in zwei Richtungen.

Torsten Gripp | Der heilige Gral | 2025

Manchmal fliegt dann ein Gedanke hinein, den ich fast vergessen hatte. Oder ein Lied. Oder Friederike, die mit zwei Kaffeebechern dasteht und sagt: „Heute ist ein guter Tag für die Freiheit. Lass uns einfach still da sitzen und ihr zuhören.“ Und so lernen meine inneren Leute wieder sprechen. In ihrer Sprache. In ihrem Tempo. Und ich? Ich höre. Ich richte aus. Ich schaffe Platz.

Und am Ende, sagt Friederike, ist es vielleicht so: „Die Seele heilt durch die Sinne. In einem inneren Nest, dass von Zeit zu Zeit ummöbliert werden muss. Mit Weitblick.“

Raum gestalten

Die Würde des Ungesagten.
Über Pausen, Schweigen und das, was dazwischen lebt.

Ich bin mitten im Gespräch.
Und
dem Entschluss, zu bleiben.

Ganz.
Wach.
Leise.

Der andere spricht.
Ein wenig zitternd.
Manchmal zu laut.
Etwas wirr.
Vielleicht ist er einfach nur müde.

Meine Aufgabe ist nicht, Ordnung zu bringen.
Meine Aufgabe ist:

Raum.

Zuhören kann so einen Raum erzeugen.
Kein Urteil.
Keine Eile.
Keine Absicht.
Und ich bin kein Richter.
Ich bin Zeuge.

Wenn ich zu hören beginne, schalte ich mich nicht ein.
Ich nehme mich nicht wichtig.
Ich bin der Boden, auf dem der andere sich zeigen darf.
Nicht der Spiegel, nicht die Wand.
Ein Tal vielleicht.
Eine offene Schale.
Ein Klangnest.

Zuhören ist nicht einfach.
Nicht der Rede wegen.
Sondern der Stille wegen.

Nichts zu sagen.
Nicht gefallen zu wollen.
Nicht gleich zu wissen.
Nicht zu verstehen.
Ohne Wegweiser zu sein.

Das braucht Mut.
Und einen eisernen Willen.

Ich höre als ganzer Mensch.
Nicht nur mit den Ohren.
Auch
mit den Augen.
Mit dem Herzen.
Mit allen Sinnen.

Ich lese den Menschen.
Zwischen den Worten.
Unter den Wunden.
Hinter dem Trotz.
Im Schatten seines Denkgefühls.

Zuhören heißt nicht, alles gutzuheißen.
Nicht, sich anzupassen.
Nicht, zu nicken, wenn das Herz den Kopf schüttelt.

Mein Gegenüber erzählt von seinem Leid.
Aber.
Ich muss es nicht lösen.
Nicht kleiner machen.
Nicht tragen.
Ich darf es einfach sein lassen.
Im Raum.

Es gibt Menschen, die mich prüfen.
Ihre Worte sind scharf.
Ihre Energie explosiv.
Manchmal höre ich, was hinter dem Lärm wohnt.
Ein Schmerz.
Hunger.

Wenn mich jemand verletzt, ohne Reue,
wenn ich merke,
Hier wird nicht zurückgehört,
verlasse ich den Raum.

Leise.

Nicht aus Zorn.
Aus Klarheit.
Aus Herzvernunft.
Weil ich weiß:
Sprache ist keine Waffe.
Sondern ein Band.
Ein Zwischenfaden.

Und Zuhören ist die Kunst,
es nicht zu zerreißen.

Der Gegenwindfänger.

Es war ein Montag. Vielleicht auch ein Dienstag, aber das spielt keine Rolle. Es war ein Sommertag. Die Vögel sangen munter vor sich hin. Der Tee dampfte leise. Ich saß im Garten und war niemandem im Weg.

Dann kam eine.
Eine, die sich selbst zu oft im Spiegel begegnet.
Freundlich. Vordergründig.
Doch in ihren Worten scharrte es schon:
„Na, läuft ja bei dir. Manche haben halt Glück.“
Und dann dieses unausgesprochene:
„Ich nicht.“

Ich sagte nichts. Atmete nur. Und spürte, wie ihre Augen suchten. Einen Makel. Einen Riss. Etwas, das sie deuten konnte als Beweis für ihr eigenes Unglück.
Menschen, die in sich leer sind, versuchen manchmal, dich auszutrinken. Mit großen Schlucken. Sie nennen es Interesse. Oder Ehrlichkeit. Aber es ist Durst. Nach Aufmerksamkeit. Nach Schuldverlagerung. Nach deinem Licht, weil sie ihres verloren haben. Gefolgt von dieser unsichtbaren Klammer:
„Ich nicht.“

Nicht auf sie zu reagieren, macht sie nervös. Die Menschen, die nicht bei sich sind. Die ihren Mangel nicht aushalten und deshalb versuchen, ihn zu verteilen. Es sind nicht die Erfolgreichen, die einem zusetzen. Es sind die, die glauben, sie kämen zu kurz. Und dann mit spitzen Fingern nach allem greifen, was in ihrer Nähe leuchtet. Und wenn sie’s nicht kriegen, wird’s schlechtgemacht. Runtergeredet. Zerschaut.

An diesem Tag bin ich aufgestanden.
Langsam.
Nicht dramatisch.
Einfach so, als hätte ich plötzlich etwas anderes vor.
Und das hatte ich auch.
Ich wollte mein Inneres nicht verschenken.
Auch nicht an den Spiegel, den sie mir hinhielt.

Mein Schutzengel Friederike sagt immer:
„Wenn du einen Drachen siehst, frag nicht, warum er Feuer speit. Frag, ob du ihm den Rücken kehren darfst.“
Und dann lacht sie.
Und ich auch.

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen einem nicht verzeihen, dass man still seinen Weg geht. Dass man nicht mit ihnen leidet. Nicht im selben Sorgenkarren sitzt. Sondern lieber zu Fuß geht. Vielleicht barfuß. Vielleicht mit einem Rucksack voller Denkgefühle, der manchmal schwer ist, aber wenigstens echt.

Ich erinnere mich an einen anderen Tag.
Ein Kollege, nenn ich ihn mal so, hatte nichts gelernt, außer, wie man sich in Szene setzt. Er schleimte nach oben und trat nach unten. Ich war zufällig unten. Und weil ich mich nicht ducken wollte, wurde ich zur Projektionsfläche seiner Zersinnung. Er grinste, als er mir ein Bein stellte. Nur metaphorisch natürlich.

Die neuen Narzissten arbeiten mit Worten, nicht mit Messern.
Sie säen Zweifel.
Hinterfragen deine Motive.
Verdrehen deine Sätze.
Und nennen das „professionell“.

Ich stand wieder auf.
Und sagte:
„Danke für den Hinweis. Ich bleib trotzdem hier.“

Damals habe ich gelernt:
Man muss sich nicht verteidigen.
Wer sich verteidigt, erkennt den Angriff an.
Besser ist: erkennen, was es ist.
Und weiteratmen.
Lang und tief.
Wie ein Baum.
Und irgendwann wird’s leichter.
Wenn man sich nicht beeindrucken lässt.
Nicht entmutigen.
Nicht in fremde Dramen hineinsaugen.

Dann entwickelt sich so etwas wie ein stilles Rückgrat.
Ein unsichtbares, aber sehr deutliches Nein.
Kein trotziges.
Eher ein:
„Das ist nicht mein Tanz.“

Es gibt einen Punkt im Leben
meist nach ein paar gelebten Jahrzehnten
da spürt man:
Ich bin nicht mehr verfügbar für diese Spiele.
Nicht aus Hochmut.
Sondern aus Würde.
Und aus dem leisen Wissen:
Ich hab Wichtigeres zu tun.
Ich möchte zum Beispiel heute noch lachen.

Manchmal will man zurückschießen.
Einmal alles sagen, was man längst gedacht hat.
Aber dann sehe ich meine Teeschalen.
Diese schiefen, langsamen Gefäße.
Und ich weiß, dass Würde nicht laut wird.
Dass Stärke leise ist.
Und dass es eine Kunst ist, einfach sitzen zu bleiben, während andere strampeln.

Ich denke an die Alten.
Die mit den rauen Händen und den klaren Blicken.
Die nie viel sagten.
Aber mit einem Nicken ganze Bücher schrieben.
„Ich hab Schlimmeres gesehen“, sagten sie mit den Augen.
Und ich glaube, sie meinten sich selbst.
Ihre Irrwege.
Ihre Umwege.
Und dass sie nicht daran zerbrachen.

Wenn du mich also fragst, wie man bleibt,
wenn andere sich auf deine Kosten aufpumpen,
dann sage ich:
Geh.
Nicht wegrennen.
Geh innerlich.
Leise.
Würdevoll.
Trag deinen Blick woanders hin.
In die Ferne.
In ein stilles Ja zu dir.

Und wenn es geht:
Lächle.
Nicht über sie.
Über dich.
Dass du dich erinnerst.
Dass du spürst, wo deine Grenze verläuft.
Und dass du sie nicht betonieren musst.
Ein ruhiger Atem reicht.

Und dann geh irgendwohin, wo du wieder du bist.
In den Wald.
In dein Atelier.
In einen Satz, der dich tröstet.
Oder in ein Lächeln von Frederike, das dich daran erinnert,
dass das alles nichts mit dir zu tun hat.
Sondern nur mit der Leere im anderen.

Die Haltung, die ich meine, ist kein Konzept.
Sie ist wie der Ton, mit dem ich arbeite.
Ungebrannt.
Formbar.
Nicht beliebig.

Du spürst es in dir,
wenn du deinen Becher nicht hergibst,
nur weil jemand Durst hat
aber kein eigenes Gefäß.

Es ist wie mit dem Wind.
Du kannst ihn nicht stoppen.
Aber du kannst lernen, in ihm zu gehen.
Ihn durch dich hindurch wehen zu lassen,
ohne dass er dich mitnimmt.

Ich nenne das Gegenwindfangen.
Eine Kunstform.
Wie Kokoro-Kurinuki.
Außen roh.
Innen weit.
Nicht perfekt.
Aber echt.
Ohne Masken.
Ohne Reaktionstheater.
Ohne das ewige:
„Warum ich?“
Denn die Antwort darauf ist:
„Weil du da bist.“

Und das reicht.
Für viele schon als Provokation.

Lass dich nicht kleinschauen.
Nicht verdrehen.
Und auch nicht aus deinem inneren Raum vertreiben.