Der Zauber von St. Malo

Die Sonne steigt gemächlich über St. Malo empor, und das Meer zieht sich zurück, als hätte es Angst vor den Heerscharen von Touristen, die sich heute wieder über die Stadt hermachen werden. Es ist Ebbe, ja, aber das ist keine gewöhnliche Ebbe! Das ist eine Ebbe, bei der selbst die Muscheln den Atem anhalten und die Krabben sich so tief in den Sand buddeln, dass sie fast in Australien ankommen. Der Sand hier ist härter als eine frisch geteerte Straße, und ich kann darauf laufen, als wäre ich auf einer Parade.

Alles eine Frage der Perspektive. (…)

Die Festungsmauer erhebt sich majestätisch vor mir, und ich kann sie aus der ungewöhnlichen Perspektive des trockenen Meeresbodens betrachten. Genau die Perspektive, die Sir Francis Drake vor langer Zeit gehabt haben muss, als er hier an Land ging. Die Sonne wirft ihr goldenes Licht auf die Szenerie, und es fühlt sich an, als wäre ich in einem alten Traum gefangen. Trotz der Menschenmassen um mich herum habe ich das Gefühl, als hätte der liebe Gott höchstpersönlich mich zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort eingeladen, um seine Schöpfung zu bewundern. Alles, was noch fehlt, ist eine persönliche Führung von ihm, aber ich kann ihn nirgendwo sehen. Stattdessen sehe ich Steine, Tiere und Menschen. Aber auch das Meer und die Luft, die fast im selben Blauton daherkommen, perfekt aufeinander abgestimmt, wie in einem himmlischen Gemälde.


Mittagszeit. (…)

Zur Mittagszeit gönne ich mir eine traditionelle Crêpe, begleitet von einer Tasse Cidre. Es ist einfach wunderbar. Der Tag in St. Malo zeigt sich von seiner besten Seite. Danach mache ich mich auf zu einer Shoppingtour. Geschäfte gibt es hier ja im Überfluss, und ich entdecke das ein oder andere Schätzchen, das einfach mit mir nach Hause muss. Ich schleppe meine Einkäufe zum Auto und setze meine Erkundungstour fort. Später, bei einem Bier in der wärmenden Sonne, widme ich mich dem beliebten Hobby des „Menschen-Guckens“. Das Leben in St. Malo kann man wirklich genießen. Am Nachmittag gönne ich mir ein kleines Schläfchen und werfe einen ersten Blick auf die Fotos, die ich heute geschossen habe.


Reise vs. Urlaub. (…)

Die Sonne geht unter und da stehe ich also, an den befestigten Ufern von St. Malo in Frankreich, und überlege, wie ich mich diesem Ort und überhaupt der ganzen Reise nähern soll. Ein leichter Wind streicht über die alten Stadtmauern, und ich kann das Salz des Meeres auf meiner Zunge schmecken. Vielleicht bin ich wie ein neugieriger Hund auf Fährtensuche, wenn ich durch die Gassen dieser historischen Stadt streife, oder vielleicht bin ich eher ein Wanderer ohne klares Ziel, der sich dem Schicksal anvertraut.
Der Unterschied zwischen einem gebuchten Pauschal-Urlaub und einer Reise ist phänomenal. Ein Urlaub ist wie ein Paket, bei dem Unterhaltung, Essen und Trinken inbegriffen sind, ein festes Programm, das mich vom Alltagstrott ablenken soll. Aber eine Reise, meine Freunde, eine Reise ist etwas ganz anderes. Sie fordert mich heraus. Ich muss selbst den Weg finden, die Welt aus verschiedenen Perspektiven erleben, sowohl das Gute als auch das Schlechte. Ich habe Erfolge, wie wenn ich endlich die versteckte Straße finde, die mich zu einem geheimen Aussichtspunkt führt, oder wenn ich die Schönheit der Welt in den frühen Morgenstunden für mich allein habe. Und für alles, was schiefgeht, trage ich selbst die Verantwortung. Kein Reiseunternehmer wird mir Geld zurückgeben, wenn das Essen nicht meinen Erwartungen entspricht. Nein, ich buche es einfach unter Erfahrung ab und mache mich bereit für das nächste gastronomische Abenteuer.

Ich liebe meine Reisen. Sie schärfen meine Sinne für Dinge, die ich nie zuvor für möglich gehalten habe. Jeder Tag ist eine wahre Wundertüte. Wunder über Wunder begegnen mir, sowohl die kleinen als auch die großen. Doch ich bin mir bewusst, dass ich deswegen noch lange kein Heiliger bin. Diejenigen, die für solche Dinge zuständig sind, würden meine kleinen Wunder wohl kaum anerkennen. Sie sind zu unscheinbar, zu unbedeutend für eine Heiligsprechung. Ich hatte keine Visionen, und niemand hat mir prophezeit, wohin die Menschheit driftet. Aber ich erkenne ein Wunder im sanften Sonnenaufgang über dem Meer, und vielleicht, ja vielleicht sogar in einer Welle, die am Strand langsam ausläuft.

St. Malo, diese historische Stadt, umgeben von dicken Mauern und von einer majestätischen Brandung umspült, hat mir wieder einmal vor Augen geführt, dass das wahre Wunder des Lebens oft in den kleinen, alltäglichen Dingen liegt. Hier, an diesem Ort, wo die Geschichte in den Steinen zu atmen scheint und das Meer die Geschichten der Seefahrer erzählt, habe ich eine neue Perspektive auf das Leben gewonnen. In St. Malo wird die Vergangenheit lebendig, und die Gegenwart wird zu einem Geschenk, das ich zu schätzen weiß. Und so setze ich meinen Weg fort, mit offenen Augen und offenem Herzen, bereit, weitere Wunder zu entdecken, auf dieser Reise, die ein wichtiger Teil meines Lebens ist.