Wo Richard sein Löwenherz verlor

Mont Saint Michel. Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut, diesen historischen Ort zu besuchen, aber dann kommen mit mir Busladungen voll mit Touristen aus Amerika angefahren. Einige von ihnen sitzen in elektrisch angetriebenen Rollstühlen, vielleicht weil sie zu fett für eigene Bewegungen sind oder sich schlichtweg nicht die Mühe machen wollen, die vielen Stufen und steilen Hänge zu bewältigen. Ihr Gemurmel der Unzufriedenheit erfüllt die Luft, während sie über die Unbequemlichkeit des Aufstiegs klagen. Ich frage mich, ob diese Massen wirklich verstehen, was Mont Saint Michel ausmacht – die Einsamkeit, die Geschichte und die erhabene Schönheit. Diese Menschen scheinen nur auf der Suche nach einem weiteren Selfie-Hintergrund zu sein, den sie abhaken können.

Auf dem Weg zur Lieblingsburg von Richard Löwenherz. (…)

Das alles will ich nicht aushalten müssen. Also beschließe ich, mich rasch zu verabschieden und weiter ins Landesinnere zu fahren, in die malerische Normandie. Mein Ziel ist das Schloss Gaillard, erbaut von Richard Löwenherz. Im Dorf unterhalb des Schlosses erlebe ich echte, unverfälschte Architektur aus dem Mittelalter. Die engen Gassen, die steinernen Häuser und die verwinkelten Pfade versetzen mich zurück in eine längst vergangene Zeit.
Aber lasst mich zur eigentlichen Hauptattraktion zurückkehren: Richard Löwenherz. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er sich auf den Zinnen seines Lieblings-Schlosses die Zeit mit Kreuzworträtseln und Sudoku vertrieben hat. Da sitzt er also, der König der Engländer, in einem Schloss, das härter zu knacken war als eine Nuss, die sich weigert, von einem Eichhörnchen gefressen zu werden. Er schaut über die Seine und denkt sich vielleicht: „Mensch, diese Aussicht ist wirklich umwerfend!“ Die Seine schlängelt sich nämlich malerisch vorbei, und die Burg ragt hoch in den Himmel. Es ist fast so, als würde die Natur sagen: „Hey, Richard schau mal, wie hübsch es hier ist!“
Und wer weiß, vielleicht hat er auf dem Rückweg nach England eine Postkarte mit einem Bild von Schloss Gaillard verschickt, mit den Worten: „War hier, hab mich gelangweilt, aber die Aussicht war super!“

Les Andelys soll eines der schönsten Dörfer in der Normandie sein. Mir gefallen die alten Häuser im Zentrum auch sehr, aber in der Neustadt gibt es wirklich häßliche Plattenbauten. Gegensätze, wie sie größer nicht sein können.

Ein Bier und eine Pizza. (…)

In diesem Moment wird mir bewusst, dass meine Reise nicht nur eine Reise durch die Geschichte, sondern auch eine Reise durch die Zeit selbst ist. Ich kann die Vergangenheit spüren und die Gegenwart sehen, und ich frage mich, wie die Zukunft dieses Ortes aussehen wird. Wie werden die Menschen in hundert Jahren über Mont Saint Michel und Schloss Gaillard sprechen? Welche Geschichten werden sie erzählen? Die Gedanken wirbeln in meinem Kopf, und ich kann nicht anders, als mich in philosophischen Betrachtungen zuverlieren. Die Welt ist ein Ort des Wandels, und ich bin nur ein winziger Teil davon, der vorübergehend an diesen Orten verweilt und darüber nachdenkt, wie sie sich im Laufe der Zeit verändern.

Am Ende gibt es ein Bier in einer Bar und auf dem Rückweg eine Pizza vom Stand um die Ecke.
Das muss reichen. Und… es reicht tatsächlich.