Heilige Quelle & Läuterung

Schlafen auf dem Campingplatz, vor allem in einem Micro-Camper, bewirkt etwas ganz besonderes, nämlich ein beschlagenes Auto – von innen. Und morgens, wenn die Blase drückt, ist ein Klo in weiter Ferne. Ist es dann erreicht, und man sitzt zufrieden auf dem Thron, wird plötzlich festgestellt, dass das Klopapier mitzubringen war…! Das sind wahre Abenteuer in einem fernen Land.

Reisen ist tödlich für Vorurteile. (…)

Die Reise nach Padron dagegen, verläuft reibungslos, und kurz nach 12 Uhr erreiche ich die Stadt, in der die berühmten Pimentos de Padron erfunden wurden. Hier in dieser Stadt gibt es einen Ort, den ich unbedingt besuchen will – eine Gruppe von zehn Felsen, die an einem bestimmten Platz stehen. Man sagt, dass sich früher die Jakobspilger durch die drei Öffnungen dieser Felsen geschlängelt haben. Diese Löcher tragen die poetischen Namen Hölle, Himmel und Fegefeuer. Und ausgerechnet an dieser Stelle soll dem Apostel Jakobus die Jungfrau Maria erschienen sein, um ihn dazu zu ermutigen, den Glauben zu predigen. Nun ja, er hat es versucht, aber ob er besonders erfolgreich war, darüber lässt sich streiten.

Aber wisst ihr, ich bin nicht nur wegen der Pimentos de Padron hierher gekommen, sondern auch wegen einer heiligen Quelle. Diese Quelle soll nach uralten Überlieferungen ein Ort der Reinigung, Läuterung und Vergebung der Sünden sein. Angeblich befand sich an genau dieser Stelle eine Grotte, in der der Apostel Jakobus sich vor seinen Verfolgern versteckt hielt. Um den Durst einer heidnischen Frau zu stillen, soll er diese Quelle erschaffen haben. Ich habe daraus getrunken. Einen sehr großen Schluck. Man kann ja nie wissen, wann man mal eine Läuterung braucht, und ehrlich gesagt, ich denke, bei mir ist sie längst überfällig.

Mark Twain sagte einst: „Reisen ist tödlich für Vorurteile, Intoleranz und Enge des Geistes.“ In diesem Sinne, meine Freunde, lasst uns weiterreisen und unsere Horizonte erweitern, auch wenn das bedeutet, in einem beschlagenen Auto zu erwachen und nach Klopapier zu suchen.


Schlafen neben dem Friedhof. (…)

Ich wohne für heute in einem fantastischen Gästehaus, das sich auf einem Hügel kurz vor Santiago erhebt. Neben diesem behaglichen Haus thront eine urige Kirche, umgeben von einem Friedhof und einer winzigen Dorfschule. Der Lehrer, der einst im Haus daneben gelebt haben mag, hat sich offensichtlich in eine längere Pause begeben – und ich meine nicht nur eine Kaffeepause. Das Mobiliar und die Einrichtungsgegenstände sind dermaßen verfallen und vergessen, dass er wohl nie wieder dort wohnen wird. Es scheint, als wären hier schon seit Ewigkeiten keine fröhlichen Kinderstimmen mehr ertönt. Ich frage mich, ob die kleinen Racker, die hier einst ihr ABC, ihr Einmaleins lernten und dem Lehrer vermutlich den ein oder anderen Streich spielten, glücklich waren.

Während ich diese Gedanken wälze, kommen mir die vielen Seelen, die auf dem Friedhof zur Ruhe gebettet wurden, in den Sinn. Haben sie ihr Leben genossen, die Höhen und Tiefen, die Santiago und seine Umgebung zu bieten hatten? Oder haben sie hier ihre besten Jahre verbracht und sind mit einem Lächeln auf dem Gesicht in die Ewigkeit eingegangen? Ich hoffe es sehr. Ich hoffe, dass sie, wie ich, die Schönheit dieses Ortes in vollen Zügen genießen konnten und jetzt irgendwo da oben mit einem besseren Blick auf das Geschehen auf Erden schauen.




Das Weihrauchfass fliegt hoch durch die Luft. (…)

Das Highlight meines Tages – die Abendmesse in der majestätischen Kathedrale von Santiago de Compostela. Normalerweise singt eine Nonne die Kirchenlieder, aber an diesem Abend werde ich von einem wunderbaren Tenor überrascht, der mein Herz mit seinem Gesang erobert.

Ein Priester im leuchtend roten Gewand begrüßt die Gäste aus aller Welt. Die Kathedrale ist rappelvoll und die Pilger sind ergriffen und voller Ehrfurcht. Ein älterer Herr in auffallend teurer Kleidung läuft aufgeregt durch das Seitenschiff, gefolgt von einem weiteren Mann und einem Priester. Ein leises Gemurmel erfüllt die Luft, und es scheint, als würden geheime Pläne geschmiedet. Dann nicken sie einander zu, und es herrscht Einverständnis auf allen Seiten. Zufriedene Gesichter zeigen sich.

Am Ende der Messe tauchen plötzlich ältere Männer in dunkelroten Gewändern auf. Sie lassen mit gelangweiltem Gesicht das gigantische Weihrauchfass von der Decke herab. Mit großer Präzision füllen sie es mit einer ansehnlichen Menge Weihrauch und zünden es blitzschnell an. Tausendfach geübte Handgriffe. Dann ziehen sie das Fass wieder hoch und lassen es durch die Luft schwingen, das Seil mit knotigen Enden fest in ihren Händen. Ich bin erstaunt, dieses Spektakel ist sonst nur an hohen kirchlichen Feiertagen oder gegen eine erkleckliche Geldspende zu sehen. Es ist, als ob der Himmel selbst sich öffnet, als das Fass durch die Luft fliegt. Weihrauchnebel durchdringt die letzten Winkel der Kathedrale, und der alte Mann im hinteren Teil der Kirche kann vor Freude kaum stillstehen. Er hüpft von einem Bein auf das andere und klopft seinem Begleiter auf die Schulter. Ich glaube, er ist der großzügige Spender, der dafür gesorgt hat, dass dieses erhebende Ereignis stattfinden konnte.



Gute Nacht. (…)

Doch bevor ich allzu melancholisch werde, geht mir durch den Kopf, dass ich nicht nur zum Nachdenken hierher gekommen bin, sondern auch, um die Reise fortzusetzen. Also werde ich mich nach einer erholsamen Nacht und einem herzhaften Frühstück wieder auf den Weg machen. So ist das eben mit Reisenden wie mir – immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und Geschichten, die das Leben schreibt. Und wer weiß, vielleicht finde ich auf meinem Weg noch mehr verlassene Lehrerhäuser und vergessene Friedhöfe, die darauf warten, von einem neugierigen Reisenden erkundet zu werden. Bis dahin, Santiago, mach’s gut, und danke für die Gastfreundschaft!