Die Farbe zwischen zwei Gedanken.

Altrot an einem Dienstag.

Ich behaupte etwas, das wahrscheinlich so noch nicht gedacht wurde. Nicht von der Wissenschaft. Nicht von der Kunstgeschichte. Aber von mir:

Die Seele kann Farben sehen.

Sie liest sie nicht wie Worte. Sondern wie Melodien. Jede Farbe hat eine Schwingung. Und die Seele ist ein Resonanzkörper. Wenn wir sagen: „Das berührt mich“, meinen wir oft etwas Farbiges. Ein Kleid im Wind. Ein Sonnenfleck auf dem Küchenboden. Ein altes Foto, das gelblich verblasst. Und genau darin seine Wahrheit trägt.

Die Seele filtert keine Konturen.
Sie fragt nicht nach der exakten Kante zwischen Blütenblatt und Hintergrund. Sie will wissen:
Was schwingt da?
Was klingt da?

Ich fotografiere gern unscharf. Blumen, die zu tanzen scheinen. Gesichter, die sich auflösen. Landschaften, die nur noch Andeutungen sind. Wie Erinnerungen aus einem früheren Leben.

Torsten Gripp | Im Garten | 2025

Warum?

Weil die Wahrheit nicht in der Schärfe liegt. Ein scharfes Bild behauptet:
So ist es.
Ein unscharfes Bild fragt:
Was siehst du?
Das ist der Unterschied zwischen Abbild und Angebot. Und ich will keine Abbilder machen. Ich will Möglichkeiten eröffnen.

Farbe irrt sich nie

Eine Blume bleibt eine Blume, auch wenn du ihre Ränder verlaufen lässt. Warum? Weil ihre Farbe bleibt.
Du kannst eine Mohnblume zerdrücken, sie verwischen, sie auflösen in Pixel und Licht, und dennoch sagt die Farbe:
Ich bin da.
Rot bleibt rot.
Es wird vielleicht schwächer.
Zarter.
Aber es bleibt.

Konturen hingegen sind wie Meinungen. Flüchtig. Verhandelbar. Farben sind eher wie Stimmungen. Sie betreten den Raum, setzen sich in deine Aura, und plötzlich denkst du an deine Kindheit. Oder an ein Stück Käsekuchen.

Die Welt wäre eine andere

Wenn wir uns in einem Raum wohlfühlen, ist es selten wegen der Möbel. Meist wegen der Farbe. Oder ihrer Abwesenheit. Wenn wir anfangen würden, die Welt nicht in Formen, sondern in Farben zu sehen – würden wir vielleicht milder werden.
Weniger Argumente.
Mehr Abstufungen.
Weniger Kanten.
Mehr Übergänge.

Was wäre das für eine Gesellschaft, die Menschen nicht nach Linien einteilt, sondern nach Leuchtkraft? Ein Kind wäre nicht „unordentlich“, sondern „ein bisschen zitronengelb“. Ein alter Mann nicht „dement“, sondern „blasslila mit Lichtpunkten“. Die Liebe? Nie wieder rot. Sondern: wechselhaft. Ein Farbklang aus Türkis, Rost, Pflaume und ab und zu ein Schuss Silber.

Wissenschaft, schau her

Die Naturwissenschaft wird jetzt unruhig. Farben sind elektromagnetische Wellen, sagt sie. Photonen, sagt sie. Rezeptoren, Zapfen, Stäbchen, Sehnerv.

Ich nicke.
Und lächle.

Aber was ist mit dem Innenbild? Dem, was wir sehen, wenn wir die Augen schließen? Warum können Blinde Farben fühlen? Warum spüren wir ein Licht, auch wenn keines da ist? Vielleicht, weil Farben nicht nur Lichtphänomene sind. Sondern seelische Zustände.

Die Gripp’sche Farblehre

Ich schlage eine neue Farblehre vor. Keine Skala, keine Skizzen. Sondern: Gefühlsschattierungen. Ein Vokabular für die innere Wahrnehmung.

  • Zustimmungsblau: ein Ton, der „Ja“ haucht
  • Stärkeblau: Ein klares, tiefes Saphirblau, das Halt gibt. Es steht für die innere Gewissheit und Widerstandsfähigkeit, die sich einstellt, wenn man weiß, dass man Herausforderungen meistern kann.
  • Seelenblau: Ein atmendes Blau-Grün. Wie ein Wasser, das atmet. Wie Mooslicht unter Gedanken.
  • Einsichtsgrün: Ein klares, tiefes Blattgrün, durch das die Sonne fällt. Es ist die Farbe, die sich einstellt, wenn plötzlich ein komplexer Zusammenhang sichtbar wird, wie ein frisch geknüpfter Faden im Wirrwarr der Gedanken. Es ist die Klarheit nach dem Grübeln.
    Heilungsgrün: Ein sanftes, klares Salbeigrün, das sich ausbreitet wie ein warmer Balsam. Es ist die Farbe der inneren Regeneration, die sich einstellt, wenn Wunden zu heilen beginnen und ein Gefühl der Erneuerung entsteht.
  • Seelengartengrün: Ein beruhigendes, sattes Waldgrün, das Tiefe und Weite vereint. Es ist der friedvolle Ort im Inneren, wo Gedanken sich entfalten und die Seele atmen kann, ein sicherer Hafen der inneren Natur.
  • Trotzgelb: strahlend mit Widerhaken
  • Heiterkeitsgelb: Ein unbeschwertes, sanftes Sonnengelb, das den Raum erfüllt. Es ist die leichte, unaufdringliche Fröhlichkeit, die den Tag erhellt, ohne übermütig zu sein.
  • Leichtigkeitsgelb: Ein schwebendes, fast gewichtsloses Zitronengelb, das sich wie ein Lächeln ausbreitet. Diese Farbe erscheint, wenn eine Last abfällt, wenn eine Sorge sich auflöst und ein Gefühl von unbeschwerter Freiheit den Raum zwischen den Gedanken erfüllt.
  • Wunderweiß: Ein strahlendes, fast blendendes Weiß mit einem Hauch von Gold. Diese Farbe manifestiert sich, wenn das Unmögliche plötzlich denkbar wird, ein kleiner Moment des Staunens, der die Grenzen der Vernunft für einen Augenblick aufhebt.
  • Freudenschimmer: Ein irisierendes, leicht rosafarbenes Weiß, das kurz aufblitzt. Dieser Farbton ist das flüchtige Glück, das sich unvermittelt zeigt, ein leichter Glanz am Rande der Wahrnehmung.
  • Anfangswindweiß: Ein fast transparentes Weiß, durchzogen von einem kaum wahrnehmbaren, frischen Luftzug. Es symbolisiert den leeren Raum unmittelbar vor dem ersten Gedanken, dem ersten Impuls, der erste Atemzug einer neuen Idee, die noch keine Form angenommen hat.
  • Altrot: wie ein verwischter Kuss auf einem alten Foto
    Ankerrot: Ein erdiges, stabiles Terrakottarot, das festen Halt gibt. Diese Farbe steht für die innere Stabilität und das Gefühl der Erdung, wenn man sich sicher und zentriert fühlt, auch in bewegten Zeiten.
  • Nachklangpurpur: Ein dunkles, sattes Purpur, das langsam verlischt wie die letzte Note eines tiefen Akkords. Diese Farbe repräsentiert das Echo eines starken Gefühls oder eines bedeutenden Erlebnisses, das noch lange nachwirkt, obwohl der Höhepunkt bereits vergangen ist.
  • Herzenswärmeorange: Ein mildes, goldenes Orange, das sanft vibriert. Diese Farbe umhüllt wie eine unsichtbare Decke, spendet Geborgenheit und das Gefühl, verstanden und angenommen zu sein.
  • Dämmerungsweiß: fast nichts – und gerade deshalb alles
  • Sehnsuchtsgrau: zwischen Nebel und Erinnerung
  • Zweifelsgrau: Ein changierendes Grau-Violett. Nicht Fisch, nicht Fleisch. Nicht Glaube, nicht Gewissheit. Sondern der Moment dazwischen.
  • Trostgrau: Ein weiches, umarmendes Taubengrau, das sanft umschließt. Es ist die Farbe, die sich um ein schmerzhaftes Gefühl legt und es nicht heilt, aber beruhigt und ein Gefühl der stillen Akzeptanz schenkt.
  • Wartegrau: Ein mattes, unbewegtes Betongrau, das die Zeit stillstehen lässt. Diese Farbe fängt den Zustand des Ausharrens ein, wenn nichts geschieht und man doch innerlich angespannt auf etwas wartet, das noch nicht sichtbar ist. Es ist die Stille vor dem Ereignis.
  • Zwiegesprächstürkis: Ein changierendes Türkis, das mal ins Blau, mal ins Grün kippt, je nach Perspektive. Es ist die Farbe des inneren Dialogs, wenn verschiedene Teile des Selbst miteinander verhandeln, argumentieren oder sich annähern, ohne dass ein klares Ergebnis feststeht.
  • Leitsternviolett: Ein klares, leuchtendes Violett, das wie ein ferner Punkt im Dunkeln schimmert. Diese Farbe symbolisiert die innere Führung und den Glauben an einen Weg, auch wenn dieser noch nicht vollständig sichtbar ist. Sie gibt den Mut, dem Unbekannten zu vertrauen.
  • Erkenntnisgold: Ein Gold-Gelb, das nicht aus der Sonne kommt, sondern von innen.
  • Sanftmutgold: Ein warmes, leuchtendes Altgold, das von innen heraus strahlt. Diese Farbe repräsentiert die stille, aber immense Kraft der Güte und des Mitgefühls – zuerst mit sich selbst, dann mit anderen. Sie ist der Beweis, dass wahre Stärke oft in der Sanftheit liegt.
  • Göttliches-Funken-Gold: Ein flüssiges, warmes Gold, das von innen heraus pulsiert. Diese Farbe ist nicht nur Glanz, sondern die pure Manifestation des göttlichen Funkens in jedem Wesen. Sie verleiht die Zauberkraft, das eigene Potenzial zu erkennen und zu entfalten, Wünsche in die Realität zu ziehen und das Leben mit der eigenen inneren Leuchtkraft zu verändern. Es ist das Gold der Schöpferkraft.
  • Lachfaltenbeige: Ein warmes, weiches Sandbeige, das Geschichten erzählt. Diese Farbe fängt die Gemütlichkeit und Weisheit eines friedvollen Moments ein, erfüllt von stiller Freude und Verbundenheit.
  • Brückenrosa: Es erscheint, wenn Verständnis entsteht, ohne Worte. Wenn sich Gegensätze nicht mehr fremd sind, sondern nur verschieden.
  • Heimkehrbraun: Ein warmes, erdiges Kastanienbraun, das Geborgenheit ausstrahlt. Es ist die Farbe des inneren Ankommens, wenn man nach einer Reise der Gedanken wieder bei sich selbst landet, in einem Gefühl der Vertrautheit und des Friedens.
  • Schutzschwarz: Ein solides, absorbierendes Tiefschwarz, das wie ein Schild wirkt. Es ist die Farbe des inneren Schutzes, der sich um die Seele legt, um sie vor Überforderung oder negativen Einflüssen zu bewahren, ein Mantel der Geborgenheit.
  • Seelenklarheitssilber: Ein klares, spiegelndes Silber, das die Wahrheit enthüllt und doch sanft ist. Diese Farbe ist der Schleierlüfter, der die Zauberkraft verleiht, die wahre Natur von Dingen und Gefühlen zu erkennen, Illusionen zu durchdringen und die eigene innere Weisheit zu hören. Es schenkt die Gabe der Intuition und der reinen Erkenntnis, die wie Mondlicht den Weg weist.
  • Weisheits-Lapislazuli: Ein tiefes, sternenübersätes Ultramarinblau, das die Geheimnisse des Universums in sich trägt. Diese Farbe ist der Schlüssel zur alten Weisheit und zur Zauberkraft des Verstehens. Sie verbindet uns mit dem kollektiven Wissen, schenkt die Gabe der tiefen Einsicht und die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen. Es ist das Blau des Wissens, das die Seele mit unendlicher Tiefe bereichert.

So würde man nicht sagen: „Ich bin traurig“, sondern: „Heute bin ich ein wenig altrot.“ Nicht: „Ich bin aufgeregt“, sondern: „Es ist wieder dieses Trotzgelb in mir.“
Friederike ist natürlich anderer Meinung. „Farben sind kein Ernstfall“, sagt sie. Sie sitzt wie immer auf dem Stuhl ohne Beine. Imaginär. Unantastbar.

„Also?“, fragt sie.
„Fertig mit dem Farbenaufschreiben?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
Sie grinst.
Ein bisschen wie Aprikose im Abendlicht.
Ich sage besser mal nichts.
Sie weiß es ja längst.
Dann legt sie den Kopf schief.
„Weißt du noch, damals, als du diese Blume fotografieren wolltest?
Die im Schatten zwischen zwei Steinen, hinten im Garten?“
Ich nicke. „Sie war wunderschön.“
„War sie das? Oder war’s nur der Moment drumherum?“
Ich denke kurz nach. Und plötzlich weiß ich es nicht mehr.
Sie steht auf.
Läuft ein paar Schritte barfuß durchs Unsichtbare.

Ich schaue ihr nach.
Sie ist jetzt kaum noch zu sehen.
Nur noch ein Umriss in sanftem Licht.
Wie Morgendunst über grünem Tee.
Dann ist sie kurz rosa.
Oder pfirsich.
Vielleicht auch nur ein Reflex.
Dann verschwindet sie.
Ein leiser Ton bleibt.
Vielleicht ist es ein inneres Türkis.
Oder ein Abschied in Dämmerungsweiß.