Seelenarchitektur

Vom Klang der Freiheit, zwischen Sinntüren, Zweifelssofa und Lauschfenster.

In meinem Inneren leben viele Leute. Kleine Gemeinschaften, Nachbarschaften, Gegenspieler. Mal laut, mal leise. Mal traurig, mal versponnen vor Glück. Sie wohnen dort, teilen sich die wenigen Räume. Einer denkt in Kurven. Eine andere malt Gedanken an die Wände. Einer ruft immer dazwischen. Und einer schweigt. Jeder dieser inneren Menschen träumt anders. Will woanders hin. Hat andere Farben im Blick. Andere Sehnsucht im Gepäck. Manche haben Namen. Andere nicht. Aber alle wollen gesehen werden. Angenommen.

„Wenn ich könnte, ich wäre Innenarchitektin“, sagt Friederike, pustet eine Haarlocke aus ihrem Gesicht und schiebt eine Gedankenmöbelidee in den Raum. „Ohne alles neu zu kaufen. Aber ich würde gelegentlich die alten Möbel umstellen. Ein Licht anders setzen. Einen Blickwinkel drehen. Vielleicht sogar ein Seelenfenster öffnen.“
Ich sehe sie vor mir, wie sie durch meine Zimmer geht. Leichtfüßig. Ohne Urteil. Hier ein Rückspiegelbild zurechtrücken. Dort ein Dankseufzer auf die Fensterbank. „Und was ist mit dem Sofa deiner Zweifel?“ fragt sie. „Kommt das wieder ans Fenster oder darf das mal in den Keller?“

Dann zieht Friederike den Vorhang beiseite. Sie flüstert: „Du brauchst Raum.“

Und sortiert leise.
Räumt auf.
Ohne weiter zu fragen.
Stellt die Hoffnung an einen besseren Platz.
Lüftet das Zweifelssofa.

Zwischendurch lachen wir über ihre inneren Wohnungspläne. Und manchmal ist es auch zum Heulen. Denn an den Außenstellen, den Fenstern, den Türen, den offenen Poren, sitzt die Gefahr. Zu viel Lärm. Zu viele Stimmen, die gar nicht hier wohnen. Die sagen, wie man zu sein hat. Wie Erfolg klingt. Was man jetzt fühlen sollte. Es ist wie ein Durchzug. Und wenn die Fenster zu lange offen bleiben, zieht es durchs ganze Haus. Dann wird das leise innere Licht zu einem schwachen Schimmer. Dann vergessen die inneren Mitbewohner ihre eigenen Stimmen. Oder reden nur noch nach, was sie draußen gehört haben.

Der heilige Bernhard von Clairvaux schrieb: „Wer sich selbst besser erkennen will, der gehe nicht nach draußen, sondern kehre in sich selbst zurück. Denn der innere Mensch trägt eine Tiefe in sich, in der Gott wohnt.“
Ich habe diesen Satz gelegentlich gehört, aber erst spät verstanden. Es geht nicht ums Abschließen. Nicht ums Abkapseln. Sondern ums Rückspüren. Ums Wiederfinden des eigenen Klangs. Denn wer innen keinen Raum hat, wird außen heimatlos.

Friederike sagt: „Du bist kein leeres Gefäß. Du bist ein bewohntes Wunder. Nur manchmal brauchst du eine stille Hand, die dir hilft, den Vorhang zu lüften. Damit du dich wieder erinnerst.“

Ich erinnere mich an einen Becher, den ich mal gemacht habe. Nicht ganz rund, nicht ganz gerade. Ein bisschen wie ein Ohr. Als würde er lauschen. Als wäre er gemacht für das, was innen klingt. Und doch: auch außen bereit, etwas zu empfangen. Vielleicht ist das das Bild der Freiheit, ein Lauschen in zwei Richtungen.

Torsten Gripp | Der heilige Gral | 2025

Manchmal fliegt dann ein Gedanke hinein, den ich fast vergessen hatte. Oder ein Lied. Oder Friederike, die mit zwei Kaffeebechern dasteht und sagt: „Heute ist ein guter Tag für die Freiheit. Lass uns einfach still da sitzen und ihr zuhören.“ Und so lernen meine inneren Leute wieder sprechen. In ihrer Sprache. In ihrem Tempo. Und ich? Ich höre. Ich richte aus. Ich schaffe Platz.

Und am Ende, sagt Friederike, ist es vielleicht so: „Die Seele heilt durch die Sinne. In einem inneren Nest, dass von Zeit zu Zeit ummöbliert werden muss. Mit Weitblick.“

Friederike

Sie kam angeradelt.
Die Schwester meines Vaters.
Mit einem Lachen, das den Wind aufhob.
Ein Pullover mit Punkten. Ein weiter Weg. Und keine Eile.

Friederike auf dem Rad

So sah sie aus, in den Sechzigern. Auf dem Foto, das jetzt an meiner Wand hängt. Sie fährt mir entgegen, jeden Tag. Unermüdlich. Eine Zeitzeugin mit Glockenlachen. Mein Schutzengel Friederike.

Früher wohnte sie zwei Straßen weiter. Heute wohnt sie über den Wolken, sagt sie. Eine kleine Wohnung im Himmel, mit Balkon und Blick auf mein Herz. Jetzt, in ihrem neuen Job als Himmelsfrau, ist sie wieder ganz sie selbst. Mit Zigarette. Mit einem guten Rotwein. Mit ihrer Altstimme, die sogar die Wolken sortieren können. Sie hat wieder angefangen zu zeichnen. Tusche auf handgeschöpften Papier, meistens. Engel sind frei in der Wahl der Materialien.
Früher hingen ihre Bilder neben echten Männern. Feininger. Klee. Nolde. Als wäre das nichts Besonderes. Ich durfte mein erstes Bild auch an ihre Wand hängen. Es war ein verwaschenes Bild mit zu viel Himmel. Aber sie hat es gerahmt. Und nie wieder abgehängt.

Ihre Adresse:

Himmel
Regenbogenallee
7. Stock.

Ihr Alltag im Himmel ist schlicht. Sie gießt morgens die Wolken. Sortiert Lichtstrahlen nach Gefühl. Kocht Kaffee für Heilige, die sich verlaufen haben. Und notiert still, was keiner merkt: Ein gutes Wort. Eine zögernde Umarmung. Ein Kinderlachen im Supermarkt.

In ihrer Wohnung riecht es nach Orangenblüten und Kaffee. Ihr Tisch ist immer gedeckt. Für Gespräche. Für Besuch. Für Rückspür. Was sie mit mir zu tun hat? Alles. Und manchmal zu viel.
Ich gebe zu: ein Pflegefall der Seele war ich oft. Empfindlich gegen Licht, aber zu stolz für Schatten. Friederike war immer da. Ist da. Wird da sein. Sie hat nie groß geredet über Erziehung. Aber sie hat es getan. Mit Blicken. Mit Pausen. Mit einem Sätzerinnen-Herz, das die Welt Satz für Satz ordnete, ohne zu diktieren.

Sie war viel unterwegs. Und ich durfte oft mit. In Zügen, die klapperten wie Geschichten. Auf Märkten, die nach Zimt und Ziege rochen. In Museen, die still waren wie Kirchen, nur freundlicher. Sie zeigte mir die große Welt. Und dass man darin klein sein darf. Und lachen. Und scheitern. Und wieder lachen. Vor einiger Zeit hat sie ihre himmlische Arbeit aufgenommen. Einfach so. Ohne Aufhebens. Sie wacht. Aber nicht streng. Ich glaube, sie könnte es auch gar nicht.

„Du fällst nicht tief,“ sagt sie. „Ich bin ja da.“

Und wenn ich wieder zu schnell denke, zu wenig fühle, lässt sie etwas fallen. Eine Tasse. Ein Gedanke. Oder pustet mir ins Gesicht. Dann lache ich laut. Einfach so. Und weiß: sie war es.

Manchmal, wenn mir der Tag zu schwer wird, holt sie tief Luft.
Und steigt auf ihr altes Rad.
Fährt los, mir entgegen.
Nicht in der Luft, sondern durch mich hindurch.
Dann weht es in mir.
Wie eine Erinnerung, die Zukunft spielt.

In ihrer Küche hängt ein Kalender ohne Wochentage.
Sie sagt: „Zeit ist was für Anfänger.“
Wenn sie Feierabend hat, so gegen Sonnenuntergang,
setzt sie sich auf ihren Balkon über meinem Herz.
Zündet eine Sternschnuppe an.
Und lauscht.
Mir.
Dem Wind.
Dem Leben, das ich fast überhört hätte.

Sie hat himmlische Werkzeuge.
Natürlich.
Ein Füller, der mit Sonnenstaub schreibt.
Ein Löffel für Trost.
Ein Schlüsselbund für verschlossene Tage.
Und einen Besen aus Möwenfedern, mit dem sie meine Sorgen auskehrt – leise, damit ich nicht aufwache.

Sie hat Freunde dort oben.
Den alten Herrn Sturm, der früher Lokführer war.
Eine Bauersfrau namens Elsbeth, die Wolken bindet wie Blumensträuße.
Und einen Engel in Ausbildung, der noch lernt, wie man schweigt.

Sie schreibt mir Briefe aus Licht.
Nicht mit Tinte.
Es sind kleine Erscheinungen.
Ein Schimmer auf dem Wasser.
Ein Duft im Vorbeigehen.
Ein Satz, der mir zufliegt, wenn ich nicht mehr suche.
Sie kommen ohne Adresse.
Aber treffen immer dorthin, wo ich offen bin.

Und wenn ich sie dann finde,
mitten im Lärm oder mitten in mir – weiß ich wieder, wohin ich gehöre.

Raum gestalten

Die Würde des Ungesagten.
Über Pausen, Schweigen und das, was dazwischen lebt.

Ich bin mitten im Gespräch.
Und
dem Entschluss, zu bleiben.

Ganz.
Wach.
Leise.

Der andere spricht.
Ein wenig zitternd.
Manchmal zu laut.
Etwas wirr.
Vielleicht ist er einfach nur müde.

Meine Aufgabe ist nicht, Ordnung zu bringen.
Meine Aufgabe ist:

Raum.

Zuhören kann so einen Raum erzeugen.
Kein Urteil.
Keine Eile.
Keine Absicht.
Und ich bin kein Richter.
Ich bin Zeuge.

Wenn ich zu hören beginne, schalte ich mich nicht ein.
Ich nehme mich nicht wichtig.
Ich bin der Boden, auf dem der andere sich zeigen darf.
Nicht der Spiegel, nicht die Wand.
Ein Tal vielleicht.
Eine offene Schale.
Ein Klangnest.

Zuhören ist nicht einfach.
Nicht der Rede wegen.
Sondern der Stille wegen.

Nichts zu sagen.
Nicht gefallen zu wollen.
Nicht gleich zu wissen.
Nicht zu verstehen.
Ohne Wegweiser zu sein.

Das braucht Mut.
Und einen eisernen Willen.

Ich höre als ganzer Mensch.
Nicht nur mit den Ohren.
Auch
mit den Augen.
Mit dem Herzen.
Mit allen Sinnen.

Ich lese den Menschen.
Zwischen den Worten.
Unter den Wunden.
Hinter dem Trotz.
Im Schatten seines Denkgefühls.

Zuhören heißt nicht, alles gutzuheißen.
Nicht, sich anzupassen.
Nicht, zu nicken, wenn das Herz den Kopf schüttelt.

Mein Gegenüber erzählt von seinem Leid.
Aber.
Ich muss es nicht lösen.
Nicht kleiner machen.
Nicht tragen.
Ich darf es einfach sein lassen.
Im Raum.

Es gibt Menschen, die mich prüfen.
Ihre Worte sind scharf.
Ihre Energie explosiv.
Manchmal höre ich, was hinter dem Lärm wohnt.
Ein Schmerz.
Hunger.

Wenn mich jemand verletzt, ohne Reue,
wenn ich merke,
Hier wird nicht zurückgehört,
verlasse ich den Raum.

Leise.

Nicht aus Zorn.
Aus Klarheit.
Aus Herzvernunft.
Weil ich weiß:
Sprache ist keine Waffe.
Sondern ein Band.
Ein Zwischenfaden.

Und Zuhören ist die Kunst,
es nicht zu zerreißen.

Der Gegenwindfänger.

Es war ein Montag. Vielleicht auch ein Dienstag, aber das spielt keine Rolle. Es war ein Sommertag. Die Vögel sangen munter vor sich hin. Der Tee dampfte leise. Ich saß im Garten und war niemandem im Weg.

Dann kam eine.
Eine, die sich selbst zu oft im Spiegel begegnet.
Freundlich. Vordergründig.
Doch in ihren Worten scharrte es schon:
„Na, läuft ja bei dir. Manche haben halt Glück.“
Und dann dieses unausgesprochene:
„Ich nicht.“

Ich sagte nichts. Atmete nur. Und spürte, wie ihre Augen suchten. Einen Makel. Einen Riss. Etwas, das sie deuten konnte als Beweis für ihr eigenes Unglück.
Menschen, die in sich leer sind, versuchen manchmal, dich auszutrinken. Mit großen Schlucken. Sie nennen es Interesse. Oder Ehrlichkeit. Aber es ist Durst. Nach Aufmerksamkeit. Nach Schuldverlagerung. Nach deinem Licht, weil sie ihres verloren haben. Gefolgt von dieser unsichtbaren Klammer:
„Ich nicht.“

Nicht auf sie zu reagieren, macht sie nervös. Die Menschen, die nicht bei sich sind. Die ihren Mangel nicht aushalten und deshalb versuchen, ihn zu verteilen. Es sind nicht die Erfolgreichen, die einem zusetzen. Es sind die, die glauben, sie kämen zu kurz. Und dann mit spitzen Fingern nach allem greifen, was in ihrer Nähe leuchtet. Und wenn sie’s nicht kriegen, wird’s schlechtgemacht. Runtergeredet. Zerschaut.

An diesem Tag bin ich aufgestanden.
Langsam.
Nicht dramatisch.
Einfach so, als hätte ich plötzlich etwas anderes vor.
Und das hatte ich auch.
Ich wollte mein Inneres nicht verschenken.
Auch nicht an den Spiegel, den sie mir hinhielt.

Mein Schutzengel Friederike sagt immer:
„Wenn du einen Drachen siehst, frag nicht, warum er Feuer speit. Frag, ob du ihm den Rücken kehren darfst.“
Und dann lacht sie.
Und ich auch.

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen einem nicht verzeihen, dass man still seinen Weg geht. Dass man nicht mit ihnen leidet. Nicht im selben Sorgenkarren sitzt. Sondern lieber zu Fuß geht. Vielleicht barfuß. Vielleicht mit einem Rucksack voller Denkgefühle, der manchmal schwer ist, aber wenigstens echt.

Ich erinnere mich an einen anderen Tag.
Ein Kollege, nenn ich ihn mal so, hatte nichts gelernt, außer, wie man sich in Szene setzt. Er schleimte nach oben und trat nach unten. Ich war zufällig unten. Und weil ich mich nicht ducken wollte, wurde ich zur Projektionsfläche seiner Zersinnung. Er grinste, als er mir ein Bein stellte. Nur metaphorisch natürlich.

Die neuen Narzissten arbeiten mit Worten, nicht mit Messern.
Sie säen Zweifel.
Hinterfragen deine Motive.
Verdrehen deine Sätze.
Und nennen das „professionell“.

Ich stand wieder auf.
Und sagte:
„Danke für den Hinweis. Ich bleib trotzdem hier.“

Damals habe ich gelernt:
Man muss sich nicht verteidigen.
Wer sich verteidigt, erkennt den Angriff an.
Besser ist: erkennen, was es ist.
Und weiteratmen.
Lang und tief.
Wie ein Baum.
Und irgendwann wird’s leichter.
Wenn man sich nicht beeindrucken lässt.
Nicht entmutigen.
Nicht in fremde Dramen hineinsaugen.

Dann entwickelt sich so etwas wie ein stilles Rückgrat.
Ein unsichtbares, aber sehr deutliches Nein.
Kein trotziges.
Eher ein:
„Das ist nicht mein Tanz.“

Es gibt einen Punkt im Leben
meist nach ein paar gelebten Jahrzehnten
da spürt man:
Ich bin nicht mehr verfügbar für diese Spiele.
Nicht aus Hochmut.
Sondern aus Würde.
Und aus dem leisen Wissen:
Ich hab Wichtigeres zu tun.
Ich möchte zum Beispiel heute noch lachen.

Manchmal will man zurückschießen.
Einmal alles sagen, was man längst gedacht hat.
Aber dann sehe ich meine Teeschalen.
Diese schiefen, langsamen Gefäße.
Und ich weiß, dass Würde nicht laut wird.
Dass Stärke leise ist.
Und dass es eine Kunst ist, einfach sitzen zu bleiben, während andere strampeln.

Ich denke an die Alten.
Die mit den rauen Händen und den klaren Blicken.
Die nie viel sagten.
Aber mit einem Nicken ganze Bücher schrieben.
„Ich hab Schlimmeres gesehen“, sagten sie mit den Augen.
Und ich glaube, sie meinten sich selbst.
Ihre Irrwege.
Ihre Umwege.
Und dass sie nicht daran zerbrachen.

Wenn du mich also fragst, wie man bleibt,
wenn andere sich auf deine Kosten aufpumpen,
dann sage ich:
Geh.
Nicht wegrennen.
Geh innerlich.
Leise.
Würdevoll.
Trag deinen Blick woanders hin.
In die Ferne.
In ein stilles Ja zu dir.

Und wenn es geht:
Lächle.
Nicht über sie.
Über dich.
Dass du dich erinnerst.
Dass du spürst, wo deine Grenze verläuft.
Und dass du sie nicht betonieren musst.
Ein ruhiger Atem reicht.

Und dann geh irgendwohin, wo du wieder du bist.
In den Wald.
In dein Atelier.
In einen Satz, der dich tröstet.
Oder in ein Lächeln von Frederike, das dich daran erinnert,
dass das alles nichts mit dir zu tun hat.
Sondern nur mit der Leere im anderen.

Die Haltung, die ich meine, ist kein Konzept.
Sie ist wie der Ton, mit dem ich arbeite.
Ungebrannt.
Formbar.
Nicht beliebig.

Du spürst es in dir,
wenn du deinen Becher nicht hergibst,
nur weil jemand Durst hat
aber kein eigenes Gefäß.

Es ist wie mit dem Wind.
Du kannst ihn nicht stoppen.
Aber du kannst lernen, in ihm zu gehen.
Ihn durch dich hindurch wehen zu lassen,
ohne dass er dich mitnimmt.

Ich nenne das Gegenwindfangen.
Eine Kunstform.
Wie Kokoro-Kurinuki.
Außen roh.
Innen weit.
Nicht perfekt.
Aber echt.
Ohne Masken.
Ohne Reaktionstheater.
Ohne das ewige:
„Warum ich?“
Denn die Antwort darauf ist:
„Weil du da bist.“

Und das reicht.
Für viele schon als Provokation.

Lass dich nicht kleinschauen.
Nicht verdrehen.
Und auch nicht aus deinem inneren Raum vertreiben.

Tanz der Worte

Silbensammlerzeit
Wenn Sprache barfuß geht.

Ich liebe es, neue Worte zu finden. Nicht zu erfinden, sondern zu entdecken. Wie Kiesel im Bachbett. Am besten glattgeschliffen vom Leben.

Ich nenne sie Zwischenworte. Sie hocken im Schatten des Alltags, kauern zwischen zwei Halbsätzen, auf einem zerknüllten Einkaufszettel, im Geruch von nasser Erde. Kleine, unscheinbare Wörter, die im Herzen nachklingen.

Wie ich sie finde?

Sie tragen ein heimliches Leuchten, damit sie nicht verloren gehen. Das kann ich manchmal sehen. Sie blinken kurz auf, als wollten sie sagen: Nimm mich mit. Ich warte hier schon eine Weile.

Doch sonst sind sie ganz gewöhnlich. Worte, die jeder mindestens schon einmal gehört hat.

Aber kaum noch einer fühlt.
Sie wollen auch nichts erklären.
Nur berühren.

Es ist Silbensammlerzeit.

Die Zeit, in der ich mit Worten auf Wanderschaft gehe. Nicht weit. Oft reicht der Weg vom Küchentisch zum Fenster. Oder vom ersten Satz eines Liedes bis zur letzten Seite eines alten Buches.

Ich ziehe los mit leeren Taschen. Und komme zurück mit einem Wort, das ich noch nie so gesehen habe.

Feinmut war so eines.

Ich fand es zwischen einem Marmeladenglas und einem müden Morgengedanken. Es stand einfach da. Ohne Aufhebens. Feinmut. Nicht Übermut. Nicht Kleinmut. Nicht Wagemut. Etwas anderes. Etwas, das innehält. Lauscht. Und trotzdem geht. Mit leiser Kraft.

Oder das Wort Zwischenfroh.

Das sich einnistet in diese kleinen Momente, in denen nichts Großes passiert – aber etwas stimmt. Wenn das Brot gelungen ist. Der Regen an der Scheibe langsam abläuft. Und niemand etwas von dir will.

Ich trage ein Notizbuch bei mir, das schon längst keine Ordnung mehr kennt. Ich blättere darin wie durch ein fremdes Leben. Überall diese Wortfindlinge, die mir eines Tages zugelaufen sind. Manche warten noch. Andere haben sich längst in Texte geschlichen. Wie Kinder, die durchs Fenster schauen und irgendwann einfach hereinkommen.

Ich schreibe sie auf, weil ich sonst übersprudeln würde. Weil sich all die Worte in mir sammeln wie Regentropfen in einer hohlen Schale.

Ich glaube, dass Sprache keine Behauptung ist, sondern ein Zuhause. Kein Waffenlager, sondern eine Werkstatt. Kein Schild, sondern eine Schale.

Und jedes Wort, das wir entdecken, verändert die Art, wie wir die Welt sehen.

Wenn ein Mensch ein neues Wort in sich trägt, sieht er die Dinge anders. Wie durch ein Glas, das den Nebel lichtet.

Einmal schrieb mir jemand, sie habe beim Lesen ein Wort gefunden, das ihr Herz zurückgegeben habe. Es war nichts Großes. Kein Donner. Kein Glanz. Nur ein leises Wort. Aber es war das ihre. Und das genügte.

Ich glaube, dass viele Worte längst da sind.
Vergessen.
Verwildert.
Verstummt.
Aber noch warm.

Man muss sich nur bücken. Oder still genug sein. Damit sie zurückkehren.

Shakespeare tat das. Er war kein Erfinder, sondern ein Hinhörer. Er sammelte die Wörter von der Straße auf, aus den Gassen, aus dem Flüstern der Händler, aus dem Seufzen der Liebenden. Und manchmal baute er sich welche, weil es keine gab für das, was er fühlte.

So entstand eine Sprache, die keine Schule brauchte. Nur Mut und Ohr.

Vielleicht sollten wir es ihm gleich tun. In unserer Zeit. In unserer Sprache.

Ich denke oft: Es geht nicht darum, klug zu schreiben.
Oder originell.
Sondern wahr.

Wahr im Sinne von: da. Ein Wort, das da ist, wenn man es braucht. Das nicht zerrt. Nicht drängt. Sondern sitzt. Wie ein stiller Freund am Küchentisch.

Es ist ein schönes Gefühl, wenn so ein Wort sich zeigt. Wenn ich es streicheln darf mit Tinte. Wenn es plötzlich Platz nimmt in einem Satz, der vorher leer war.

Dann ist da etwas entstanden, das nicht laut werden muss.

Weil es lebt.
Und ich weiß:

Das ist genug.
Das ist
Sprache,
barfuß.

Wenn die richtigen Worte zur richtigen Zeit aufeinandertreffen, tanzen sie.

Springen auf,
drehen sich,
hüpfen,
verbeugen sich.
Flüstern.

Nicht irgendwo auf einer Bühne, sondern in Wohnzimmern. Dort, wo die Hausschuhe stehen, das alte Radio spielt und der Tee langsam abkühlt.

Behutsam nähern sie sich den Menschen. Berühren die Seelen.
Manche schüchtern.
Andere wild.

Silbenwirbel.
Gedankentänze.
Ein Reigen der kleinen Buchstaben.

„Ich bin da“, sagt ein Wort.
„Ich auch“, antwortet ein anderes.


Billige Wahrheiten?

Sie hängen überall. In alten Küchen.
In engen Fluren.
In Herzform gestickt oder gerahmt in Mahagoni.
Zwischen vergilbten Familienfotos und Porzellanenten mit Goldrand.
Spruchweisheiten.
Wortkerne des Alltags.
Lebensschnüre.
Für viele nur Flachgold.
Für mich: die Wahrheit.

Als Kind habe ich mit ihnen lesen gelernt.
„Morgenstund hat Gold im Mund“.
Ich war vielleicht fünf.
Meine Großmutter zeigte auf das gestickte Band über dem Sofa, unter dem Wandteller mit der Alpenszene.
Ich las, was dort stand, und verstand – nichts.
Ich war nur stolz, die Buchstaben zu erkennen.

Später kamen mehr Sprüche.
In Frakturschrift, in Sütterlin, in Schreibmaschinenlettern.
Immer waren sie da.
Als wären sie Teil des Hauses.
Wie der Geruch nach Bohnerwachs und Linoleum.
Wie das Sonntagsblatt in der Tageszeitung.

„Reden ist Silber. Schweigen ist Gold.“
Ein Satz, den ich hasste.
Ich redete gerne.
Zu viel, sagten manche.
Und der Spruch hing dort wie ein stiller Zeigefinger.
Ein kleiner Ordnungsruf, immer in Blickhöhe.

Ich war sieben.
Nun fand ich die Sprüche doof.
Zu alt.
Zu kitschig.
Zu wenig Ich.

Doch dann vergingen Jahre.
Jahrzehnte.
Und der Satz kommt zurück.
Nicht als Mahnung.
Sondern als Erinnerung.
Und als Wahrheit.

Die Weisheit hat kein modernes Gesicht.
Sie trägt keine Sneakers.
Sie kommt nicht auf TikTok.
Sie schreit nicht.
Sie flüstert.
Sie ist unauffällig.
Vielleicht ein bisschen spießig.
Und doch:
Wer laut genug hinliest,
erkennt manchmal das Leben selbst.

„Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“
Ein Satz, über den ich lange gelächelt habe.
Zu schulmeisterlich. Zu lehrbuchartig.

Aber wie oft hab ich’s erlebt:
Neid, List, kleine Gemeinheiten.
Und wie oft hat das Leben dann still und leise zurückgeschlagen.
Nicht aus Rache.
Nur aus Gleichgewicht.

Diese Sprüche sind wie Kiesel am Wegesrand.
Man übersieht sie.
Tritt auf sie.
Und wundert sich, wenn einer im Schuh bleibt.
Und drückt.
Und sich nicht entfernen lässt.

Spruchweisheiten sind keine Philosophie.
Sie sind ihr entfernter Vetter.
Karggescheit.
Alltagstief.
Verdichtet.
Sie sagen, was ist.
Ohne Begründung.
Ohne Diskussion.

Und genau das macht sie so wirkungsvoll.
Sie appellieren an das, was wir längst wissen.
Und doch so gern vergessen.

Ich mag sie nicht alle.
Viele klingen wie Vorschriften.
Andere wie stille Drohungen.
Andere sind voller Liebe.
Die sind für mich wie ein altes Märchen.

„Wer ein Warum zum Leben hat, der trägt auch jedes Wie.“
Das klingt tief.
Und ist es auch.
Nietzsche hat’s gesagt, nicht meine Oma.
Aber sie hätte nicken können.
Weil sie es gelebt hat.

Es ist seltsam:
Diese alten Sprüche,
die mich als Kind genervt haben,
sprechen heute leise in mir weiter.
Ich höre sie in Momenten des Zweifels.
Oder wenn ich das Gefühl habe,
mich selbst verloren zu haben.

Sie sind wie Familienmitglieder.
Nicht zwingend sympathisch.
Aber verlässlich.
Wie ein Seelenschirm.

Manche Sätze brauchen ein ganzes Leben, bis man sie versteht.
„Geben ist seliger denn Nehmen.“
Als Kind klingt das nach Verlust.
Als Jugendlicher nach Weltverbesserung.
Heute weiß ich:
Es macht frei.

Spruchweisheiten sind keine Erklärungen.
Sie sind Erinnerungen.
Sie erklären nichts.
Aber sie erinnern an alles.

An das, was man tun sollte.
An das, was man nie hätte tun sollen.
An das, was zählt. Und bleibt.

Spruchweisheiten sind keine billigen Wahrheiten.
Sie sind verdichtete Erfahrung.
Geschenkt.
Ohne Garantie.
Aber mit Nachleuchten.

Und das ist das Seltsame:
Sie sind immer da.
Ob man an sie glaubt oder nicht.
Ob man sie beachtet oder überliest.
Sie sitzen im Raum wie die Katze der Großmutter.
Still. Und da.

Ich sehe sie heute mit anderen Augen.
Nicht als Erziehungsversuch.
Sondern als Einladung zur Rückkehr.
Zur Selbstverortung.

Denn manchmal – wenn alles zu laut wird –
ist da dieser Satz,
der kommt
wie ein freundlicher Schatten:

„In der Stille liegt die Antwort.“

Und dann höre ich wieder das leise Ticken der alten Küchenuhr.
Und sehe den Spruch auf Leinen.
Und spüre:

Die Wahrheit ist nicht billig.
Aber einfach.

Und sie kommt
immer zu Fuß.

Zwischen ZEN und ZORN.

Warum meine Seele
auf dem
Handrücken wohnt.

„Du bist viele – viel zu viele!“ – rief mir eine Freundin zu und blies die Backen auf. Das klang nicht nach einem Kompliment. Eher nach einer Kapitulation. Es schien, als hätte sie sich ergeben – vor den Ecken und Kanten, den Sprüngen und Brüchen meines Charakters. Eben noch war ich scheinbar verständnisvoll und liebevoll, im nächsten Moment aufbrausend und wie aus der Rolle gefallen. Rolle? Spiele ich eine Rolle? Ich glaube, ich habe sie erschreckt. Vielleicht suchte sie nach einem festen Kern, nach dem einen unverrückbaren Ich in mir. Und als sie ihn nicht fand, zweifelte sie. Zweifellos an meiner Authentizität.

Dabei ist genau das mein höchster Anspruch: authentisch sein! Ich habe mich nie als Schauspieler gesehen. Und doch: Ich kann tugendhaft sein – und im nächsten Moment vollkommen unmoralisch. Ich kann liebevoll sein – und zwei Minuten später grantig wie ein aus dem Takt geratener Regenschauer. Ich bin nicht viele. Ich habe nur viele Zustände. Aber die sind echt.
Die Zustände, sie schweben über mir, neben mir, unter mir. Manchmal übernehmen sie die Regie. Manchmal auch ich. Ich finde „Zustände“ viel bezeichnender als dieses ganze Gerede von Rollen. Wer von sich behauptet, stets derselbe zu sein, lügt. Oder hat einfach ein furchtbar langweiliges Innenleben.

War meine Freundin vielleicht nur bequem? Wollte sie einen leicht zu steuernden Menschen, einen Freund, der immer kalkulierbar ist? Und bin ich egoistisch, wenn ich meinen Stimmungen freien Lauf lasse?

Jesus soll gesagt haben, man solle werden wie die Kinder. Gute Idee! Aber ehrlich gesagt: Kinder sind auf entzückende Weise egoistisch. Sie sind Meister der Manipulation, sie können stur sein wie ein Granitblock oder anpassungsfähig wie Knetmasse. Ihre Antennen für Missbilligung und Anerkennung sind hochempfindlich. Je nach Bedarf wechseln sie ihre Strategie. Mal sind sie Engel, mal Teufel, mal unberechenbare Wetterphänomene. Eigentlich haben alle Kinder eine Persönlichkeitsstörung – vielleicht weil sie noch gar keine Persönlichkeit haben?

Und ich? Ich bin im Rentenalter und wechsle nur noch selten meine Zustände. Aber wenn, dann richtig. Bei Menschen, die ich mag, bin ich hemmungslos ehrlich. Ich denke nicht lange nach. Ich lebe meine Widersprüche aus. Ich verliere die Beherrschung, aber ich projiziere meine Probleme nicht in andere. Ich idealisiere niemanden. Und ich habe keine Angst davor, mir selbst einen Spiegel vorzuhalten.

Wie also gehe ich mit dieser Bemerkung um: „Du bist viele“? Ist das vielleicht doch ein Kompliment? Auch wenn es nicht so gemeint war?

Ich starte ein kleines Experiment. Ich werde mich erstens in selbstbewusster Demut üben. Nicht zu verwechseln mit Selbstverleugnung oder Unterwürfigkeit. Sondern eine Gelassenheit, die sich nicht provozieren lässt. Ein sanftes inneres Kopfnicken soll genügen, wenn meine Stimmungen mal wieder Kapriolen schlagen. Das ungehemmte Ausleben aller Höhen und Tiefen werde ich mir für Meditationssitzungen oder nächtliche Albträume aufheben. Mein Freundeskreis soll schließlich nicht unter mir leiden.

Zweitens werde ich meine Seele streicheln. Und zwar wortwörtlich. Ich habe mir ein kleines Stückchen Haut auf meinem linken Handrücken ausgesucht. Das ist von nun an, der Sitz meiner Seele. Immer wenn ich mich gut fühle, fahre ich sanft darüber.
Wenn es mir schlecht geht, werde ich dieselbe Stelle streicheln – um mein Gehirn zu erinnern: Da war doch mal Glück. Vielleicht lässt es sich auf diese Weise wieder einfangen.

Und drittens, am wichtigsten: Ich werde das Nichtstun kultivieren. Nein, nicht die Faulheit. Ich will von nun an noch genauer hinschauen, zuhören, statt zu viel zu sprechen. Mich meinen Lieblingsmenschen zuneigen. Auf ungebetene Ratschläge verzichten. Es ist dieses Nichtstun, das ich kultivieren will. Es zur hohen Kunst erklären, die ich fleißig üben werde. Schließlich ist das auch eine ehrenhafte Tätigkeit. Ich werde mich dem hingeben wie ein Zen-Mönch seinem Tee oder ein Kater seinem Nachmittagsschlaf. Denn wenn ich etwas freiwillig tue – auch wenn es nichts Aktives ist – dann ist es immer noch eine Entscheidung.

Und das ist doch auch wieder authentisch.

Ach, ich mache einfach, was ich will.
Das bin ich.
Ganz egal, wie viele ich bin.

Pflicht und andere Missverständnisse

Pflichtgefühl ist wie eine enge Hose: Manche tragen sie mit Stolz, ich bevorzuge Beinfreiheit.

Wenn ich Ameisen betrachte, habe ich oft den Verdacht, dass sie gar nicht nachdenken. Sie rennen los, tragen Krümel, kämpfen gegen Windböen, bauen ihren Haufen, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt. Und auch, wenn eine Ameise in den Tod geht – die anderen laufen weiter, als wäre nichts geschehen. Ich dagegen liege manchmal im Bett und denke einfach nur nach.

Vielleicht, weil ich keine Ameise bin.
Vielleicht aber auch, weil ich kein richtiger Mensch bin.

Natürlich sehe ich aus wie einer. Zwei Beine, zwei Arme, eine Nase im Gesicht. Ich kann reden, essen, mir die Schuhe binden. Aber ich bin nicht, was man gemeinhin einen richtig tüchtigen Menschen nennt. Keiner von diesen Strebsamen, die frühmorgens Listen schreiben und abends alles abgehakt haben. Keiner von diesen Tunichtnichts, die von morgens bis abends faulenzen und trotzdem abends müde sind. Nein, ich bin ein Nicht-Mensch. Ein Sondermodell. Ein Zwischending. Ein Wesen mit der Lizenz zum Verweilen.

Ich bin nicht-wettkämpferisch, weil ich keinen Pokal für das Leben brauche.
Ich bin nicht-habgierig, weil meine Hände lieber Ton kneten als Geld zählen.
Ich bin nicht-rastlos, weil ich nicht glaube, dass man schneller lebt, wenn man rennt.
Ich bin nicht-planerisch, weil Pläne sich sowieso an der Wirklichkeit stoßen.
Und vor allem bin ich nicht-pflichtvergessen, sondern pflichtgewitzt. Ich nehme die Pflicht und drehe sie mir zurecht, bis sie zu mir passt.

Manchmal sticht mich der Hafer, und ich werde für ein paar Stunden ein Beinahe-Mensch. Ich räume auf, schreibe, töpfere, male, renne hin und her, als müsste ich mich selbst einholen. Doch dann fällt mir wieder ein, dass ich gar nicht auf der Flucht bin. Dass kein Ziel auf mich wartet, keine Medaille, kein Applaus.

Die Natur macht es genauso. Sie blüht nicht aus Pflichtgefühl. Sie existiert. Einfach so. Manchmal glaube ich, Gott und ich, wir haben denselben Weg. Einen Weg ohne Ziel.  Und dieser Gedanke gefällt mir.

Ob ich irgendwo ankomme?
Wer weiß das schon.
Aber ich bin hier.
Und das genügt.
Bis ich wieder weg bin.

Das unendliche Üben.

Es war einmal ein Mensch, der Tag für Tag seine Hände in die weiche, kühle Erde tauchte. Er knetete, formte, erkannte und begann von Neuem. Der Ton war sein Gefährte, sein Lehrer, sein Spiegel. Und so übte er – nicht, um etwas Bestimmtes zu erreichen, sondern weil das Üben selbst eine Welt war, in der er frei war und atmen konnte.

Manchmal fragte er sich: Wann kommt der große Moment? Wann werde ich erkennen, dass ich angekommen bin? Wann erlebe ich die große Erfüllung? Doch jedes Mal, wenn der Gedanke kam, gab er sich selbst eine Antwort:

Übe. Übe. Übe.

Torsten Gripp | Grüne Becher | 2025

Der Ton hatte kein Ziel. Kein Becher, keine Schale, kein Gefäß sehnte sich danach, fertig zu sein. Alles entstand und wurde zugleich wieder vergessen. Und so kam es, dass auch er, der Töpfer, vergaß – vergaß, was er wollte, vergaß, wohin er strebte. Er wurde eins mit dem Kneten, dem Drücken, dem Ziehen, dem sanften Nachgeben. Und in diesem Vergessen lag eine Freiheit, von der er nicht gewusst hatte, dass sie möglich war.

Er war längst kein Suchender mehr, kein Jäger nach Perfektion. Die Welt, so seltsam und unbarmherzig sie draußen auch sein mochte, wurde in seinem Tun weich und erträglich. Er musste nichts erreichen. Der Tag kam, wie er kam, mit Licht und Schatten, mit Stille und Lärm. Er nahm ihn an, mit staubigen Händen und einem Herz, das im Rhythmus des Übens schlug.

Die Zeit floss dahin, aber sie war kein Feind. Denn jeden Morgen war da die Freude: Ton auf den Händen, das Fassen, das Nachgeben, das Erschaffen. Und am Abend, wenn alles ruhte, war da keine Ungeduld mehr. Kein Mangel. Kein Warten auf den einen Moment, der alles verändern würde.

Denn der Moment war längst da. Und er war es immer gewesen.

Der Tag passiert mich.

Ich lasse mein Leben laufen. 
Greife nicht ein. 
Fast nicht. 

Es ist wie in der Werkstatt, wenn der Ton durch meine Hände geht – lebendig und doch still. Mein Geist ruht, während meine Hände arbeiten. Sie finden ganz von selbst eine Form. Ich denke nur: „Becher“, und die Reise beginnt. Manchmal denke ich auch: „Teeschale, Vase oder Schale“. Aber der Gedanke bleibt ein leises Wispern. Der Rest geschieht von allein. Jedes Stück wird so ein Einzelstück. Serienfertigung? Unmöglich. Und das ist gut so. Dazu hätte ich ohnehin keine Lust.

Später, wenn ich die Rohform versäubere, wird mein Kopf lebendig. Gedanken fliegen hin und her, treiben vor und zurück, wie Herbstblätter, die keinen Halt suchen. Oft aber bleibe ich einfach nur in diesem einen Moment stehen. In der Freude. Ich halte das Ding, das meine Hände geschaffen haben, und spüre eine leise, warme Zufriedenheit. Es ist so viel mehr als nur Ton. Es lebt. Es ist ein magischer Moment.

Und dann kommt die Glasur. Ein Ritual wie das Anziehen am Morgen. Aus der Vielzahl von Kleidern – meinen Glasuren – wähle ich das aus, das zum Tag passt. Ich entscheide spontan. Der Ofen wird sowieso das letzte Wort haben. Dort, in der Gluthitze, geschieht das Wunder der Verwandlung. Mein Einfluss ist eher gering. Es ist das große Nichteingreifen, das den Zauber möglich macht.

Ich mag dieses Nichteingreifen. Es ist befreiend. Es nimmt mir die Verantwortung ab und schenkt mir stattdessen Glauben. Einen Glauben an das Schicksal, das, wie der Ofen, seine eigene Sprache spricht. Nichteingreifen bedeutet nicht, dass ich mich treiben lasse wie ein Blatt im Wind. Es bedeutet, dem Fluss des Lebens zu vertrauen, ohne ihn zu kontrollieren. Die Arbeit mit dem Ton lehrt mich: Alles hat seine Zeit, seine eigene Geschwindigkeit. Eingreifen würde die Form brechen, würde die Harmonie stören, die sich ganz von allein entfaltet. Es ist ein Tanz zwischen Schicksal und Willen, bei dem der Wille einen Schritt zurücktritt, um dem Schicksal Raum zu geben.

„Der Tag passiert mich.“

Dieser Satz klingt seltsam, als wäre er gestolpert. Und doch ist er ganz eindeutig. Ein Tag passiert mich. Er zieht an mir vorbei, wie ein Strom, in den ich nicht greife. Er lässt sich nicht festhalten, nur erleben. Am Ende wird er von der Nacht abgelöst, wie ein Schatten, der den Raum einhüllt. Und irgendwann falle ich in den Schlaf. Ein Zustand, der vom Tod kaum zu unterscheiden ist. Diese Grenze fasziniert mich. Ich frage mich manchmal, ob ich nach dem Tod wohl auch träumen werde. Die Vorstellung macht mich seltsam froh.

Bisher bin ich immer wieder aufgewacht. Das Licht hat die Dunkelheit besiegt, und mich wieder in den Tag geschickt. Und dafür bin ich dankbar. Der neue Tag kann mich nun wieder passieren. Und so lasse ich ihn fließen – wie alles andere auch.