Kokoro-Kurinuki

Einige Dinge halten dich fest, auch wenn du sie längst losgelassen hast.


Wenn die Finger über die raue Textur gleiten, ist es, als würde man sich an einem Berghang festhalten. Der Rand, von einem sanften, hellen Schmelz umsäumt, gleicht altem Schnee, der sich in den Spalten des Gebirges sammelt. Doch diese Schale jedoch birgt Wärme. Ihr dunkler Leib umschließt den Tee wie eine Höhle das Feuer. Wer daraus trinkt, betritt einen Raum zwischen den Zeiten – einen Ort, an dem Stille hörbar wird und jeder Schluck ein Schritt auf verborgenen Pfaden ist.

Es heißt, der Berg Kailash sei eine Achse der Welt. Eine Pilgerreise dorthin verändert den Geist. Vielleicht ist diese Schale eine kleine Version davon – ein Wegweiser in die Tiefe der Dinge. Wer sie hält, hält mehr als ein Gefäß. Er hält ein Versprechen von Zeitlosigkeit in seinen Händen.

Gesichter einer Teeschale

Manchmal ist sie nur eine Teeschale.
Manchmal ist sie das Auge des Sturms.


Heute ist ihr letzter Tag bei mir. Still ruht sie auf dem Holzbrett, als wüsste sie längst, dass ihre Reise weitergeht. Die Teeschale mit den vielen Gesichtern. Manchmal unscheinbar, dann wieder erhaben wie eine Welle im Atlantik. Sie spiegelt das Licht, das sie trifft. Sie spiegelt die Seele, die sie hält.

Manchmal ist sie nur eine Schale. Manchmal ist sie das Auge des Sturms, das Zentrum eines Moments, der hält und trägt. Tee flüstert in ihr, kräutrig oder bitter, leise oder kräftig. Sie kennt keine Eile, nur den Wandel.

Wenn draußen die Winde toben, wird sie zum Anker. Wenn Stille zu laut wird, füllt sie den Raum mit einem tiefen, warmen Schluck Zeit. Und wenn ein Sonntag zu blass erscheint, weckt sie das Meer – Wellen rollen in der Tiefe ihres Inneren, salzig, schaumgekrönt, abenteuerlustig.

Warum? Weil sie mehr ist als Ton. Weil sie atmet. Weil sie verzaubert ist.

Ihr neuer Besitzer hat sie eingereiht in das Teeschalen-Regal.
Ich finde, sie sticht ein wenig hervor. Die blau-weiße Meeres-Tee-Schale.

Die Schale.

Vielleicht ist sie nichts weiter als eine Schale. Vielleicht.


Sie steht auf drei Beinen, als würde sie nicht einfach nur existieren, sondern etwas bewahren. Etwas tragen. Ihr Ton ist dunkel wie fruchtbare Erde, ihre Form schlicht, aber voller Kraft.

Wenn man die Hand darüber hält, spürt man eine feine Kühle, als hätte sie den Atem der Erde gespeichert. Manche sagen, dass sie mehr ist als eine Schale. Dass sie ein Gefäß für das Unausgesprochene ist – für Gedanken, die erst Wurzeln schlagen müssen, bevor sie Gestalt annehmen.

Wer sie mit Wasser füllt, sagt, es spiegele sich nicht nur das Gesicht darin, sondern auch ein Hauch von Vergangenheit. Wer sie mit Früchten füllt, meint, sie schmeckten intensiver. Und wer sie leer lässt, hört manchmal ein leises Summen – kaum wahrnehmbar, als würde die Erde selbst durch sie sprechen.

Vielleicht ist sie nichts weiter als eine Schale.
Vielleicht aber ist sie ein stiller Begleiter, der nicht nur hält, sondern auch gibt.

Erde. Form. Magie.

Die Hüterin.

Das Feuer, das sie formte, hat nicht nur den Ton gehärtet, sondern auch eine alte Geschichte versiegelt.

Vielleicht ist diese Schale eine Hüterin von etwas, das man nicht in Worte fassen kann – ein Gefäß für Erinnerungen, für flüchtige Momente, die sonst verloren gingen.

Die Schnitte und Rillen auf ihrer Oberfläche erzählen von der Zeit, die nicht glatt ist, sondern voller Brüche und Spuren. Die Fäden, die sie umschlingen, halten vielleicht etwas zusammen, das nicht zerbrechen darf. Oder sie sind eine Botschaft – ein stilles Flüstern von jemandem, der einst wusste, dass ein Gefäß nicht nur hält, sondern auch bewahrt.

Das Blau in den Vertiefungen ist wie erstarrtes Licht, wie Tropfen eines Himmels, der einst in sie hineingeflossen ist. Und das Feuer, das sie formte, hat nicht nur den Ton gehärtet, sondern auch eine alte Geschichte versiegelt.

Wenn man sie in die Hand nimmt, spürt man mehr als nur das Gewicht des Tons. Man spürt eine Präsenz, als würde die Schale atmen – als hätte sie etwas zu erzählen, wenn man ihr nur lange genug lauscht.

Was, glaubst du, würde sie flüstern?

Hüterin der verborgenen Kräfte.

Manche sagen, dass sie in den Häusern, in denen sie steht, ihre eigenen Wege geht.


Nicht jeder kann sie sehen. Natürlich, mit den Augen schon – da steht sie, dunkel und erdverbunden, mit ihrem hölzernen Wächter. Doch ihre wahre Gestalt zeigt sie nur denen, die bereit sind, zuzuhören.

Ihr Ton, so schwarz wie die tiefste Nacht, scheint das Licht zu schlucken. Doch wenn man sie aus dem richtigen Winkel betrachtet, flackert etwas darin auf – ein Echo vergangener Rituale, ein Hauch von alten Geheimnissen. Ihr Rand ist nicht zufällig geformt. Er trägt Spuren, als hätte die Zeit selbst ihn mit Fingerspitzen berührt.

Das Voodoo-Holz erhebt sich über ihr wie ein Totem. Zwei Gesichter, schweigend, doch wachsam. Sie sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Wissen alter Zeiten. Und wer es wagt, die Schale mit einer Flüssigkeit zu füllen, entfacht ihre Magie.

Wasser spiegelt mehr als das Gesicht – es zeigt das, was verborgen ist.
Wein ruft Erinnerungen herbei, selbst die, die vergessen schienen.
Tee zieht das Glück an, langsam, süß und unwiderruflich.

Doch manchmal, in stillen Nächten, wenn der Raum in Dunkelheit getaucht ist, beginnt sie zu flüstern. Kein Laut, den man mit den Ohren hören kann – eher ein Summen tief im Inneren. Die Luft um sie scheint sich zu bewegen, als würde sie nach etwas greifen. Nach einem Wunsch, einem Gedanken, einer Hoffnung.

Manche sagen, dass sie in den Häusern, in denen sie steht, ihre eigenen Wege geht. Dass sie ihren Platz verändert, sich unmerklich dreht, dass man die Räume manchmal mit einem Gefühl betritt, das eben noch nicht da war.

Doch sie fordert nichts. Sie nimmt nur das auf, was ihr anvertraut wird.

Ein Gefäß der Magie.
Ein Portal der Erde.
Ein Hüter von Dingen, die nur die Nacht kennt.

Die Kunst des Scheiterns.

Die Kunst des Scheiterns

Die Kunst des Scheiterns mit Stil

Und dann passiert es: Ein Riss. Mitten durch das Werkstück. Immer trifft es genau die Schale, die ich besonders mochte. Die perfekte Kurve, die sanfte Linie – alles dahin. Wahrscheinlich habe ich irgendwo einen Fehler gemacht. Aber wo? Vielleicht beim Ton, vielleicht beim Brennen, vielleicht bei meiner übertriebenen Selbstsicherheit. Genau werde ich es nie wissen. Leider.

Doch jetzt kommt der magische Moment: der Moment, in dem die Abfall-Tonne schreit „Hierher!“, und ich antworte: „Nicht so schnell!“ Denn was kaputt ist, muss nicht weniger wertvoll sein – manchmal wird es sogar mehr.

Hier kommt der Golddraht ins Spiel. Kintsugi, diese wunderbar tröstliche japanische Kunst, die Risse mit Gold hervorhebt, statt sie zu verstecken. Plötzlich wird der Bruch zur Zierde, der Makel zur Signatur. Meine Schale kann zwar keine Flüssigkeiten mehr halten – ein bisschen unpraktisch für eine Teeschale, zugegeben – aber es gibt ja Gummibärchen.

Man sagt, Kintsugi sei eine Philosophie der Heilung, ein Fest des Unvollkommenen. Ich sage: Es ist auch eine Form des Pragmatismus. Denn was wäre die Alternative? Perfektion ist langweilig, Unvollkommenheit ist ehrlich. Und Gummibärchen schmecken sowieso besser, wenn sie aus einer Schale kommen, die ein bisschen von der Welt gesehen hat.

Drei Vasen

Torsten Gripp | Vasen | 2025
Drei Vasen

Drei kleine Vasen.
Drei Blumen aus Filz.
Sechs Farben, viele Zwischentöne.

Ich sehe mehr.
Mehr, als der erste Blick verrät.
Mehr als Keramik?
Oder nur drei Vasen,
Filzkugeln an zarten Stengeln,
von Draht gehalten?

Egal?
Nein.

Die Zwischentöne –
sie halten die Welt zusammen.
Sie tragen mich,
lassen mich fliegen,
hier,
jetzt,
mitten im Wohnzimmer,
bis an die Ränder der Zeit.